Literatur, Lesen, Verstehen

Alfred Lorenzers Impulse für eine psychoanalytisch-pädagogische Kompetenz

Moritz Heß & Achim Würker

Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik • Band 30 (2024), 141–168

https://doi.org/10.30820/0938-183X-2024-30-141 CC BY-NC-ND 4.0 https://jahrbuch-psychoanalytische-paedagogik.de

Zusammenfassung: Im Dialog reflektieren der (zum Zeitpunkt des Gesprächs noch) Student der Sonderpädagogik und der Studiendirektor im Ruhestand ihre Erfahrungen mit literarischen Texten, erläutern die sozialisatorische Bedeutung von Literaturrezeption und erforschen den Stellenwert, den Literaturinterpretation in pädagogischen Qualifikationsprozessen gewinnen kann. Dabei nehmen sie auf ihre konkrete Praxis mit Interpretationsgruppen in Universität und Schule ebenso Bezug wie auf theoretische Fachliteratur, die diese Praxis untermalt. So kommen z.B. Textbezüge zu Dilthey und Gadamer, Rieger-Ladich, Fonagy oder Lorenzer ins Gespräch. Durch das Beispiel einer Interpretationsdiskussion wird veranschaulicht, wie bewusstseinsferne Lebensentwürfe in der Auseinandersetzung mit den Wirkungen eines kurzen Kafka-Textes fassbar werden und wie Erfahrungen in der Gruppendiskussion dazu beitragen können, in der späteren pädagogischen Praxis Offenheit zu wahren und förderlicher zu handeln.

Schlüsselwörter: Literaturinterpretation, Szenisches Verstehen, Lehrkräftebildung, Psychoanalytische Pädagogik

1 Prolog: Kontext, Interesse und Perspektive

Ausgangspunkt der Entstehung des vorliegenden Textes war ein eher informeller Austausch über Tiefenhermeneutische Literaturinterpretation und ihre Relevanz für Qualifizierungsprozesse als Mailwechsel zwischen den beiden Autoren. Anlässlich des einhundertsten Geburtstags von Alfred Lorenzer bot sich die Gelegenheit, den begonnenen Dialog als Beitrag zu einer Vorlesungsreihe an der Goethe-Universität Frankfurt auszuarbeiten. Die Konzeption dieser Reihe sah Tandem-Vorlesungen von etablierten und jüngeren Wissenschaftler/innen vor. Wir gestalteten unseren Beitrag als vorgetragenen Dialog, wobei die Themenvorgabe die Konzentration auf Lorenzers Schriften zu Symbolisierung und Literatur bewirkte. Für die vorliegende Publikation entschieden wir, den Charakter eines mündlichen Wechselgesprächs beizubehalten, weil wir es – Gadamer in seiner Wertschätzung des Gesprächs folgend (vgl. Gadamer, 1965) – reizvoll fanden, auf diese Weise eine spezifisch hermeneutische Erkenntnisweise zu verdeutlichen: Das Wir, zu dem der Dialog zusammenführt, zeichnet sich durch inhaltliche Differenzen und Übereinstimmungen aus; Erkenntnis entwickelt sich in hermeneutischen Zirkelbewegungen, in denen immer wieder Übereinstimmungen mit dem zunächst Fremden gesucht und Annäherungen gefunden werden, bevor eine nächste Frage, eine nächste Problematisierung die Erkenntnissuche erneut in Bewegung setzt. Der Generationenunterschied bringt dabei ein Wesensmerkmal von Bildung zur Geltung und appelliert an ein weiteres zentrales Moment des Gesprächs im Sinne Gadamers: Die Offenheit dem Fremden gegenüber, die gegenseitige Unterstellung, dass die Position des Anderen immer die angemessene sein könnte (vgl. ebd., S. 363). Das widerspricht dem Klischee, dass eine Hierarchisierung der Positionen zugunsten des Wissenderen bzw. Erfahreneren und somit einseitige »Belehrung« notwendige Folgen des Generationenunterschieds wären. In der Perspektive der Hermeneutik ist nämlich Unterschiedlichkeit eine Voraussetzung dafür, dass sich im Austausch eine Horizonterweiterung entfalten kann: Ins Gespräch kommen ein Alter, der sich über Jahrzehnte mit Literaturinterpretation beschäftigt hat, und ein Junger, der seit vergleichsweise kurzer Zeit Wissen und Erfahrung auf diesem Feld erwirbt. Ausgangspunkt ist das Interesse des Jüngeren, im Austausch mit einem Experten Fragen zu klären, die sich ihm im Zusammenhang mit der Tiefenhermeneutik stellen. Dass dadurch auch der Ältere zur Auseinandersetzung mit ihm noch recht neuen wissenschaftlichen Entwicklungen gebracht wird, zeigt sich am Beispiel der Mentalisierungstheorie. So sind beide angehalten, die Überzeugungskraft der eigenen argumentativen Positionen zu überprüfen; sie lassen sich herausfordern, Neues zu erwägen. Interesse also von beiden Seiten, jedoch altersspezifisch unterschiedlich nuanciert. Das kommunikative Zusammenspiel kreist inhaltlich um die sozialisatorische Bedeutung von Literatur – genauer um die Frage: Welche Bedeutung kann die, über die einfache Rezeption hinausgehende, tiefenhermeneutisch orientierte Interpretation für die beteiligten Subjekte ganz allgemein sowie im Besonderen für angehende Pädagog/innen erlangen?

Lassen wir, bevor wir zum eigentlichen Dialog übergehen, Lorenzer zu Wort kommen, um den theoretischen Rahmen anzudeuten, in dem sich unsere Überlegungen zur spezifischen Wirkungsweise der Beschäftigung mit literarischen Texten und deren Nutzen für pädagogisch Handelnde bewegen:

»Gegenstand der tiefenhermeneutischen Untersuchung sind zwar wie in der Psychoanalyse bewußte und unbewußte Verhaltensformeln, d.h. Interaktionsformen, […]. Ihre analytische Bewußtmachung ist im Falle der Literatur aber ein pointiert kollektives Problem, nicht Sache der individuellen Lebensauseinandersetzung […]. Adressat der tiefenhermeneutischen Interpretation ist nicht der Autor […], sondern der Leser […], nicht vordringlich die infantile Bildungsgeschichte […], sondern der Sozialzusammenhang erwachsener Individuen« (Lorenzer, 1981a, S. 172).

»So wie die therapeutische Interpretation das ›Zusammenspiel‹ mit dem Patienten voraussetzt (und dieses und nichts anderes interpretiert) […], ebenso müssen Leser und Interpret eine Einheit bilden: Der Interpret deutet nicht den Text, sondern seine Leseerfahrung« (Lorenzer, 2006, S. 199).

»Der Text ist als Symbolgefüge zu respektieren; er ist als Vermittlung einander widerstrebender Impulse aus zwei eigenständigen Ordnungssystemen zu lesen. Die eine Ordnung ist bewußtseinsfähig, sie ist Bewußtsein, sie bestimmt den manifesten Textsinn. Die andere Ordnung ist das Unbewußte, die im latenten Textsinn zum Vorschein kommt. Der Text ist die Einheit beider. Oder genauer ausgedrückt: Am Text ist die Einheit beider Sinnebenen festgemacht. Das Symbol ist der Doppelsinn« (Lorenzer, 1986, S. 57f.).

2 Dialog: Alfred Lorenzers Impulse für eine psychoanalytisch-pädagogische Kompetenz

Achim Würker (AW): In unserem schriftlichen Austausch war meine erste Frage an dich: Wie bist du auf das Thema der Bedeutung von Literatur für Pädagog/innen gekommen?

Moritz Heß (MH): Veranlasst durch deine Frage habe ich versucht, mir meine Lust am wissenschaftlichen Forschen insgesamt und meine Neugier im Hinblick auf unser Vortragsthema der Bereicherung pädagogischen Handelns durch die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Speziellen vor Augen zu führen. Zwei Dinge spielen da vor allem eine bedeutende Rolle, wobei mir bemerkenswert erscheint, wie lange die Ereignisse und Entwicklungen zurückliegen, die ich rückblickend mit meinem aktuellen Erkenntnisinteresse in Verbindung bringe. Der Zusammenhang mit deiner Frage bleibt vielleicht zunächst etwas im Unklaren – ich werde gleich versuchen, das Ganze einzuordnen:

Der erste Aspekt, der mir ohne längeres Nachdenken einfiel, war die Lust am Forschen und Experimentieren. Ich muss in der ersten Klasse gewesen sein, als ich mit meinem besten Grundschulfreund einen Forscherclub gründete. Wir blieben bis zuletzt zu zweit, was uns allerdings nicht vom Forschen abgehalten hat. Auch in einem Detektivclub war ich Mitglied, auch hier gab es neben mir nur eine weitere Detektivin, die noch heute zu meinen besten Freundinnen zählt. Ich verbinde damit diese kindliche Neugier, einen Hang, dem Mysteriösen, Geheimnisvollen und Rätselhaften auf den Grund gehen zu wollen.

Der zweite Aspekt bezieht sich ganz direkt aufs Lesen. Einige meiner schönsten Kindheitserinnerungen sind ans Vorgelesen-Bekommen beim Zubettgehen geknüpft: Ich erinnere mich an Geborgenheit und das begleitete Eintauchen in aufregende, fremde Welten. Angefangen bei Petterson und Findus von Sven Nordqvist, über Cornelia Funkes Herr der Diebe, bis hin zu Harry Potter von Joanne K. Rowling. Als ich dann selbst lesen konnte, wurde das stille und zurückgezogene Lesen zu einem wichtigen Teil meiner Jugend. Hier muss ich z.B. an Christopher Paolinis Eragon denken: ein großartiger Fantasyroman, bei dem es sich wirklich so anfühlte, als hätte ich durch das Papier hindurch eine telepathische Verbindung zu diesem riesigen Drachen.

All das: die kindliche Neugier, der Reiz des Geheimnisvollen, das Erkunden des Fremden und Neuen, erscheint mir heute als Essenz des Pädagogischen – und zwar auf beiden Seiten: Aufseiten der Schüler/innen ist es im Idealfall Antrieb des Lernens und wird optimaler Weise aufgegriffen und gesteigert oder zumindest aufrechterhalten und genutzt und nicht unterdrückt oder gar sanktioniert, wenn sich das Interesse zufällig gerade nicht auf die curricular oder in der Unterrichtsplanung vorgesehene »Sache« richtet. Aufseiten der Pädagog/innen, ob an Universitäten oder Schulen, können die erwähnten Phänomene gleichermaßen zur intrinsisch motivierten Erkundung pädagogisch bedeutsamer Gegenstände und Sachverhalte sowie zur ehrlich interessierten Auseinandersetzung mit sich selbst und Anderen, allem voran den jungen Menschen, bewegen.

Wie steht es mit deinen literarischen Erfahrungen?

AW: Für mich war Karl May der Einstieg in die Literatur, danach kamen triviale Krimis und erst spät in der Oberstufe einige wenige Texte der sog. hohen Literatur, angeregt durch den Deutschunterricht. Da wurde z.B. Max Frischs Homo faber bedeutsam, über den ich später einmal ein kleines Büchlein verfasst habe. Aber ich kann nur unterstützen, was du sagst: Literatur ist wirklich das, was man abstrakt eine Sozialisationsagentur nennen könnte. Es ist – darauf verweist schon Freud – die Fortsetzung des kindlichen Spiels und die Ausbildung von Fantasie über den privaten Tagtraum hinaus. Sofern wir vorgelesen bekommen oder selbst lesen, versetzen wir uns in eine andere Welt, eine Alternative zu unserer realen Alltags- und Erfahrungswelt. Wir erweitern unseren Horizont und lernen Persönlichkeiten und deren Gefühls- und Gedankenwelt kennen. Das war bei Karl May und ist auch bei Harry Potter natürlich nicht so inspirierend, weil sie doch eher den Tagträumen in ihrer primären Wunscherfüllungsdynamik nachgebildet sind. Aber auch diese triviale Form der Literatur ist nicht ganz belanglos: sie stützt uns, hilft uns über unsere Fragilität hinweg, liefert Fluchtmöglichkeiten aus überfordernden Konfliktsituationen und schützt vor Ängsten. Im Zusammenhang mit Märchen hat das Bettelheim (1993) unter dem Motto »Kinder brauchen Märchen« gefasst. Aber neben diesem »Schutzaspekt« bieten literarische Texte die Chance, den eigenen Horizont zu erweitern, womit wir wieder beim Thema sind, was es uns als Pädagogen nützen kann, uns mit Literatur zu beschäftigen.

Wie entwickelte sich dein Interesse an Literatur weiter?

MH: Das hängt eng damit zusammen, wie ich als Student zur Frage nach den pädagogischen Potenzialen ästhetischer Werke gekommen bin. Vor allem meine Leseerfahrungen mit einer bestimmten Gruppe literarischer Texte. Diese Texte verbinden ihre Anschlussfähigkeit an solche Themen, Fragen und Überlegungen, die mir sonst eher aus dem Lehramtsstudium bekannt waren; man könnte auch sagen: die pädagogische oder sonderpädagogische Relevanz ihrer Inhalte.

Die ersten dieser Werke sind mir im Rahmen meines Fachstudiums Französisch begegnet. Zuallererst erinnere ich mich da an Edouard Louis’ En finir avec Eddy Bellegueule (dt. Das Ende von Eddy). Aus meiner Sicht ist das ein passendes Beispiel, um einmal zu zeigen, was beim Lesen und teilweise noch lange danach in mir vorgegangen ist. Das an mir zu beobachten, hat mich schließlich zu der Vermutung geführt, anderen in meiner Situation könnten diese und ähnliche Lektüren ebenfalls helfen, sich der Zielgruppe und den Herausforderungen der bevorstehenden pädagogischen Arbeit gedanklich und emotional anzunähern, ohne unter dem Handlungs- und Entscheidungsdruck der Praxis zu stehen und ohne einer Prüfungs- und Effizienzlogik des Studiums zu unterliegen. Die Situation, in der ich mich zum Zeitpunkt meiner Begegnung mit Eddy Bellegueule befand, war die eines künftigen Lehrers bzw. Sonderpädagogen im Studium, der sich einerseits mehr qualitative Praxiserfahrung wünscht, andererseits die nächste Gelegenheit dazu in Form des sagenumwobenen Referendariats fürchtet.

Ich schwankte also zwischen dem Wunsch nach praktischem Tätigsein einerseits und der Angst vorm Praxiscrash, vor Überforderung und Versagen andererseits. Hinzu kam die Distanz, die ich zwischen meinem Herkunftsmilieu und dem vieler meiner künftigen Schüler/innen sowie damit verbunden zwischen meinem Erfahrungshorizont und dem ihren befürchtete. Wird es mir gelingen, Verständnis für ihre Lebenslagen aufzubringen, um angemessen mit ihnen umzugehen? Werde ich mit ihrem Erleben und dem daraus resultierenden Verhalten zurechtkommen? Werden sie mich ernstnehmen, obwohl ich vieles von dem, was ihr jeweiliges Leben prägt, aus meinem eigenen Leben nicht kenne? Wir könnten diese gedankliche Beschäftigung als »Probehandeln« bezeichnen (vgl. etwa Leber, 1972, S. 23) und finden die damit verknüpfte Vorstellung nicht nur in psychoanalytisch-pädagogischen Diskursen im engeren Sinne:

Auch biografieorientierte und strukturtheoretische Positionen im pädagogischen Professionalisierungsdiskurs sind daran anschlussfähig (vgl. etwa Dlugosch, 2016; Helsper, 2021; Kratz, 2024).

Bevor ich näher auf den angesprochenen Roman eingehe: Wie war das bei dir? Wie hat sich deine Beziehung zur Literatur weiterentwickelt und wie kam dann der Bezug zum Thema der Literatur in der Pädagogik zustande?

AW: Ich bin zunächst früher lieber ins Kino gegangen als zu lesen, bin insofern nicht sonderlich literarisch gebildet. Ich habe später aber – wie erwähnt – in der Oberstufe einen guten Literaturunterricht genossen, der mein Interesse geweckt hat, sodass ich neben Politik auch Germanistik studiert habe. Dann habe ich bei Alfred Lorenzer Seminare über tiefenhermeneutische Literaturinterpretation besucht und bei ihm nach meinem Staatsexamen promoviert. Neben meinem Beruf als Deutschlehrer habe ich, soweit das meine berufliche Belastung zuließ, weiterhin an Literaturinterpretationen gearbeitet. Dann kam eine Abordnung an die TU-Darmstadt zur Lehrerausbildung, und da begann ich, mich mit psychoanalytischer Pädagogik zu beschäftigen. In den letzten zehn, fünfzehn Jahren sind die beiden Themen »Tiefenhermeneutische Literaturinterpretation« und »Psychoanalytische Pädagogik« dann immer wieder miteinander in Berührung gekommen, sodass es mich sofort begeistert hat, als ich hörte, dass du dich als Student mit dieser Verknüpfung beschäftigst. Vielleicht passt das ja zu deiner Erfahrung mit dem erwähnten Werk?

MH: Ziemlich gut sogar! En finir avec Eddy Bellegueule ist eine Autosoziobiografie, also ein Werk, das das Leben des Autors aus dessen eigener Sicht erzählt und dabei die gesellschaftlichen Bedingungen der persönlichen Entwicklung in den Blick nimmt. Im Falle von Eddy Bellegueule ist da ein Junge, der in einer strukturell benachteiligten ländlichen Region Frankreichs aufwächst und dessen Kindheit von materieller Armut, Alkoholismus und familiärer Gewalt geprägt ist. Spätestens mit beginnender Jugend spielt zudem die Entdeckung der eigenen Homosexualität eine tragende Rolle, insbesondere in Konfrontation mit den heteronormativen und geschlechterstereotypen Ansichten, die neben Fremden- und Bildungsfeindlichkeit das elterliche – v.a. aber das väterliche – Mindset bestimmen.

Da lässt sich vielleicht schon erahnen, was während des Lesens in mir vorgegangen ist: Ich hatte in Eddy Bellegueule jemanden gefunden, der – ganz im Unterschied zu mir – vieles mit einem beträchtlichen Teil meiner künftigen Schülerschaft teilt. Ich hatte sehr intime Einblicke erhalten in persönliche Erlebnisse, in schmerzliche Erfahrungen und kindliche Ängste. So konnte ich mich »szenisch verwickeln lassen«, die »Bühne« zumindest einmal imaginativ »selbst betreten« (vgl. Lorenzer, 1974, S. 138), ohne es tatsächlich zu tun. Dabei durfte ich mitverfolgen, wie dem jugendlichen Eddy trotz alledem das gelang, was gemeinhin als Bildungsaufstieg bezeichnet wird. Wobei eine besonders wichtige Erkenntnis darin besteht, dass es sich bei Edouard Louis um einen absoluten Ausnahmefall handelt: In Frankreich, ähnlich wie in Deutschland, werden gesellschaftliche Ungleichheit und Bildungsbenachteiligung deutlich häufiger reproduziert als überwunden (vgl. Möller et al., 2020; Butterwegge, 2020). Die Leseerfahrung hat mich motiviert, dazu beizutragen, dass solche Ausnahmen wahrscheinlicher werden.

AW: Bevor ich dir meine zweite Frage stelle, ganz kurz: Was du darstellst, ist deshalb so wichtig, weil du gleich zwei Konflikt- und Spannungspunkte benennst, die dein Forschungsinteresse angetrieben haben: Erstens verweist du auf eine subjektive Ambivalenz: Da ist einerseits dein Wunsch, in die Praxis zu gehen und andererseits der befürchtete Praxiscrash, die Angst vor Überforderung und Versagen. Zweitens verweist du auf den Lebenskonflikt der literarischen Figur bzw. des autobiografisch schreibenden Autors. Beide Male nennst du subjektive Konflikte, und damit befindest du dich im Zentrum des psychoanalytischen Anliegens, nämlich die Fokussierung innerer Konfliktspannungen. Und du deutest an, was dein Verständnis befördert: Zwei Szenarien treten zueinander in ein Verhältnis, das antizipierte zukünftige Szenarium des Praxiseintritts und das literarisch präsentierte des halb-fiktiven Helden. Beide Male geht es um die Spannung Individuum – Gesellschaft oder mit dem Titel meines Hoffmannbuchs gesagt, um das Verhängnis der Wünsche (1997) unter den Bedingungen bestimmter sozialer Verhältnisse. Der Zusammenhang von der künstlerisch-präsentativen literarischen Darstellung und deinen inneren Lebensentwürfen befördert deine Reflexionsmöglichkeiten. Damit bringst du einen wesentlichen Aspekt der Lorenzer’schen Tiefenhermeneutik zur Geltung.

Daran schließe ich meine zweite Frage an: Wie begreifst du Literatur und literarische Kommunikation allgemein?

MH: Ich beantworte das mal mit Terry Eagleton: »›Literatur‹ und ›Unkraut‹ sind eher funktionale als ontologische Begriffe: sie sagen etwas darüber aus, was wir tun, aber nichts über das Wesen der Dinge« (Eagleton, 1997, S. 10). Ob ich also einem Einkaufszettel ästhetische Qualität oder tieferen Sinn beimesse, hängt viel mehr davon ab, in welchem Kontext er mir begegnet, als davon, welche Worte er enthält. Wird er mir in einem Roman präsentiert, veranlasst mich das vielleicht dazu, die Auswahl, die Reihenfolge, den Klang der notierten Waren genauer zu analysieren und das alles auf eine metaphorische Ebene hin zu überprüfen, weil ich eine mir noch verborgene Bedeutung vermute. Ganz anders, wenn ich ein Stück Papier mit exakt denselben Buchstaben auf meinem Küchentisch vorfinde. Derselbe Text ist dann kein literarischer mehr, weil ich ihn jetzt nicht mehr als solchen wahrnehme und entsprechend anders interpretiere.

AW: Deinen Hinweis auf Kontext und Wahrnehmungsperspektive finde ich sehr spannend und möchte ergänzen: Es ist auch bei einem Zugang, der sozusagen »kunstbewusst« ist, ein großer Unterschied, wie man den Gegenstand Kunst bzw. Kunstwerk begreift: ob ich als Kunsthistoriker Geschichte und Traditionen in den Blick nehme, ob ich als Ideologiekritiker nach unangemessenen Denkfiguren suche, ob ich einfach das Handwerkliche, die Form, anschauen möchte oder, und das ist die Lorenzer’sche Perspektive, ob ich das Kunstwerk als eine sinnliche Art der Symbolisierung auffasse und mich auf diese einlasse, um meinen Horizont in Richtung der unbewussten Lebensentwürfe und Vorstellungen zu erweitern (vgl. Lorenzer, 2006).

MH: Gerade hast du mit Lorenzers Perspektive die Tiefenhermeneutische Interpretation angesprochen. Ich habe in diesem Zusammenhang kürzlich Grenzgänge: Literatur und Unbewußtes gelesen. Könntest du zu dieser Publikation etwas sagen?

AW: Das von dir erwähnte Buch, das ich mit Sigrid Scheifele und Martin Karlson (1999) geschrieben habe, versammelt im Wesentlichen Vorträge, die aus einer gemeinsam gestalteten Reihe im Literaturhaus Frankfurt stammen. Wir drei waren da noch ganz eng befasst mit dem, was wir bei Lorenzer gelernt hatten. In seinen Interpretationsseminaren haben wir buchstäblich am eigenen Leib erfahren können, was es bedeutet, sich literarische Szenen nicht distanziert anzuschauen, sondern sich in sie verstricken zu lassen. Unter seiner Moderation konnten wir Assoziationen und Irritationen artikulieren, und er war es oft, der die Fruchtbarkeit solcher Sammlungen durch eindrucksvolle Verknüpfungen demonstrierte. Er war es auch, der uns immer davon abhielt, rasch zu griffigen Deutungen Zuflucht zu nehmen, uns sozusagen vor der intimen Reflexion unseres eigenen Verhältnisses zum Text zu schützen. Ergebnisse dieser Arbeit an literarischen Texten vorzustellen, war damals unsere Absicht.

Mittlerweile wird die Tiefenhermeneutik – nahezu synonym: das »Szenische Verstehen« – nicht nur im Bereich der psychoanalytischen Literatur- und Kulturinterpretation berücksichtigt, sondern auch in der Pädagogik. In der Pädagogik gab es beginnend mit Aloys Leber und Hans-Georg Trescher eine wichtige Tradition der Lorenzer-Rezeption. Leider drohte sie um die Jahrtausendwende – soweit ich es auf Tagungen zum Beispiel der Kommission Psychoanalytische Pädagogik der DgfE wahrnahm – abzubrechen. Tatsächlich gab es immer Fortsetzungen der Auseinandersetzung mit und der Nutzung von Lorenzer’schen Konzeptionen, beispielsweise durch Manfred Gerspach in Darmstadt bzw. jetzt in Frankfurt. In den letzten Jahren nehme ich geradezu eine Art Tiefenhermeneutik-Renaissance wahr. Zurück zu deinen Erfahrungen: Wie ist dir diese Tradition begegnet?

MH: Da ich mich erst seit vergleichsweise kurzer Zeit mit der Tiefenhermeneutik beschäftige, war bislang besonders die Hermeneutik im Sinne Wilhelm Diltheys (1900/1964) und später v.a. Hans-Georg Gadamers (1965) aufschlussreich. Ihr zufolge muss auf die Annahme einer linearkausalen Verursachung eines bestimmten Textverständnisses verzichtet werden. Auch von der Autorintention als Hauptbedeutungsquelle des Kunstwerks ist konsequenterweise Abstand zu nehmen.

Vielmehr ist davon auszugehen, dass das Werk bestimmte Assoziationen, Erinnerungen und Vorstellungen hervorruft. Diese sind subjektiv geprägt, d.h. sie sind von den individuellen Vorerfahrungen, den Erwartungen und Vorurteilen des lesenden Subjektes abhängig, insgesamt also vom lebensweltlichen Hintergrund der Person. Man kann sich jetzt eine Pendelbewegung vorstellen zwischen dem Textverständnis aufseiten der Rezipientin oder des Rezipienten und der Textgestalt. Diese ist wiederum beeinflusst vom Verhältnis zwischen Textdetails und dem Textganzen. Die lesende Person gelangt schließlich zu ihrer Auffassung von der Bedeutung des Textes, und diese Suche ist prinzipiell unabschließbar.

Verschiedene Textverständnisse bzw. potenzielle Bedeutungen können sich in Teilen widersprechen und dennoch nebeneinander bestehen und gleichermaßen für sich Gültigkeit beanspruchen. Zentrale Kriterien für ihre Gültigkeit sind die Begründbarkeit ihrer Plausibilität anhand offenkundiger Textstrukturen sowie eine überindividuelle Nachvollziehbarkeit der dargelegten Interpretation. Es bleibt die »unhintergehbare Subjektivität« (vgl. etwa Jung, 2018).

Dazu passt ein Zitat von Markus Rieger-Ladich, der mir begegnet ist, bevor ich dann zur Tiefenhermeneutik und Lorenzers Kulturanalyse kam, von dessen Überlegungen ich dort aber einiges wiedererkannte. Er schreibt, »ein Kunstwerk verdanke sich […] einer Kristallisation singulärer Erfahrungen. Somit sind diese Erfahrungen auch nicht völlig unzugänglich. Die Erfahrungsgehalte sind lediglich zu einer charakteristischen Form geronnen. Und als solche können sie von uns wieder aktualisiert werden. Wir müssen uns freilich darum bemühen und hermeneutische Anstrengungen unternehmen« (Rieger-Ladich, 2014, S. 354).

AW: Ich knüpfe mal an deine Erläuterung der hermeneutischen Perspektive an und möchte die Besonderheit der Tiefenhermeneutik darlegen. Was ich vorhin beschrieben habe an Erfahrungen in Lorenzers Seminaren, gründete ja auf der wohlabgewogenen Übernahme der psychoanalytischen Erkenntnisweise, wie sie zunächst als hermeneutischer Prozess in der Therapie praktiziert wurde. Da ist dein Hinweis auf Dilthey und Gadamer sehr triftig, weil sie die grundlegenden Vorgänge von Verstehensprozessen – in Abgrenzung von naturwissenschaftlich-erklärenden Zugängen – verdeutlicht haben. Es geht ihnen um die zirkelhafte Annäherung an fremde Sinnentwürfe. Das ist auch bei der Tiefenhermeneutik so, allerdings mit bestimmten Besonderheiten, weil sich das Verstehen auf das Unbewusste bezieht. Da das Unbewusste aber qua definitionem dem Bewusstsein und der sprachlichen Reflexion entzogen ist, erscheint dies als ein Paradox, was sich aber aufklären lässt: Psychoanalytische Hermeneutik bezieht sich nicht auf die rationale und logische Sprachebene, sondern auf das, was sich abseits davon eher unwillkürlich szenisch-bildhaft ausdrückt. Der Analytiker/die Analytikerin nimmt den Text des Patienten/der Patientin mit gleichschwebender Aufmerksamkeit auf und konzentriert sich auf das, was in ihm als Bilder und szenische Vorstellungen aufsteigt, was er an averbalen und körpersprachlichen Mitteilungen z.B. bei Begrüßung und Abschied wahrnimmt sowie das, was durch den Klang der Stimme an sein Ohr dringt.

Und so müssen wir uns auch einstellen, wenn wir Literatur lesen bzw. wenn wir bspw. in Projekten qualitativer Sozialforschung oder (arbeitsbezogenen) Reflexionssitzungen reale Unterrichtsszenen oder deren Protokollierungen interpretieren wollen. Wir müssen uns verstricken und assoziativ Bilder in uns aufsteigen lassen, wir müssen uns irritieren lassen, müssen innere Szenen plastisch werden lassen und erkunden, wie wir darauf reagieren, um so zu ertasten, welche hintergründigen Bedeutungen im Spiel sind.

Ich komme zu meiner dritten Ausgangsfrage, die noch einmal das Pädagogische in den Mittelpunkt rückt: Worin siehst du die Relevanz der Arbeit an und mit Literatur für die Pädagogik?

MH: Ich denke da v.a. an die Effekte, die durch das Sich-Hineindenken in fremde Lebenswelten und das Sich-Einfühlen in fremde Personen bzw. Figuren mit der pädagogisch motivierten Lektüre literarischer Texte erzielt werden können. Du selbst hast mir gegenüber in diesem Zusammenhang einmal das Ziel einer »pädagogisch förderlichen Haltung« formuliert. Dazu hast du eben schon etwas gesagt. Ich habe diese Überlegungen in einem deiner Aufsätze wiedergefunden: »Die Erfahrung mit tiefenhermeneutischer Literaturinterpretation ermöglicht es, in pädagogischen Interaktionen – getragen von einer Kompetenz in szenischem Verstehen – eine förderliche Haltung einzunehmen« (Würker, 2023a, S. 291ff.). Das konnte ich gut mit meinen Leseerfahrungen verbinden und werte es als Argument für die Relevanz von Szenischem Verstehen von Literatur im Pädagogikstudium.

Eine andere Stelle hat mich allerdings stutzen lassen. Ich möchte daher kurz auf Felix Schottländer Bezug nehmen, den du im selben Aufsatz zitierst und dessen Stellungnahme du für das pädagogische Feld spezifizierst: »Ein pädagogischer Anfänger, der niemals Romane liest, sich für persönliche Schicksale in der Literatur überhaupt nicht interessiert, ist von vorneherein verdächtig« (ebd., S. 291). Mir stellt sich die Frage: Ist einer Studentin oder einem Studenten ohne Vorliebe für das Lesen von Romanen tatsächlich automatisch mangelndes oder gar fehlendes »vertieftes biographisches Interesse an sich selbst und an anderen« (ebd.) zu unterstellen? Es gibt doch auch andere Medien, die diesem Interesse Anschub und Nahrung geben können.

AW: Du hast mit deiner Skepsis vollkommen recht. Das Schottländer-Zitat kam mir einfach deshalb recht, weil der Aufsatz ursprünglich für einen Sammelband zu Lorenzers 100. Geburtstag gedacht war. Da war es eben eine gute Pointe, den Lehranalytiker von Lorenzer mit einem Zitat zur Literatur zu Wort kommen zu lassen. Aber klar, das ist zu pauschal. Dennoch beharre ich darauf, dass es für Pädagog/innen ungeheuer wichtig ist, eine Art psychoanalytisch-hermeneutische Verstehenshaltung zu erwerben bzw. einzunehmen. Wo und wie auch immer diese geschult wird.

MH: Das sehe ich ähnlich. Im Zusammenhang mit meiner Frage nach weiteren Möglichkeiten muss ich an Svenja Taubner denken, die insbesondere »Qualitätsserien« das Potenzial zuschreibt, Bildung (im weitesten Sinne) anzuregen (Taubner, 2018, o.S.). Entsprechend ihrem wissenschaftlichen Hintergrund fokussiert sie dabei auf die Mentalisierungsfähigkeit der Zuschauer/innen. Übertragen auf das Lesen liefert die Mentalisierungstheorie neben der Tiefenhermeneutik weitere Erklärungsansätze für die Prozesse, die die Auseinandersetzung mit ästhetischen Zeugnissen in den Rezipierenden anregen kann. Auch ein Verständnis der pädagogisch förderlichen Haltung bietet sie an.

Derzeit erscheint mir vor allem die »mentalisierende Haltung« in Teilen dem zu entsprechen, was in der psychoanalytischen Pädagogik als »notwendige Haltung« »für erfolgreiches pädagogisches Handeln« (Würker, 2023a, S. 305; Hervorh. i.O.) beschrieben wird. Manfred Gerspach hat mehrfach die Potenziale der Mentalisierungstheorie herausgestellt und gleichzeitig ihre Lücken aus seiner Sicht aufgezeigt (vgl. etwa Gerspach, 2007, 2018). Auch mit ihren Verbindungen zu originär psychoanalytischen Konzepten (nicht allerdings zu Lorenzers Theorie) hat er sich befasst (vgl. Gerspach, 2020). Welche Überschneidungen und Differenzen siehst du zwischen dem Mentalisierungsansatz und Lorenzers Theorie?

AW: Ich habe mich mit der Mentalisierungstheorie noch nicht intensiv beschäftigt, kenne ihre Erkenntnisse über frühe Sozialisationsprozesse und Störungen wie Borderline zu wenig, um mir ein Urteil erlauben zu können. Was mir aber im Hinblick auf Folgerungen für die Förderung von Mentalisierungsprozessen im Rahmen von pädagogischen Interventionen bekannt ist, so scheint mir da eine Verknüpfung naheliegend mit dem, was Lorenzer sozialisationstheoretisch im Zusammenhang mit Symbolisierungsprozessen analysiert. Die Fähigkeit, Affektzustände wahrzunehmen und zu reflektieren, könnte mit Lorenzer als Verbindung von äußerer Szene, innerer Szene und Zeichen begriffen werden, also als Symbolisierungsfähigkeit. Der Affekt ist an innere Szenen – Lorenzer spricht von »Interaktionsengrammen« (1981b, S. 90) oder »sensomotorischen Situationsniederschlägen« (2006, S. 163) – gebunden. Diese in Bildern oder in Sprache zu fassen, erlaubt es, sie situationsunabhängig aufzurufen, probezuhandeln, zu reflektieren und sie so also in die bewusste Verfügung zu holen. Das gilt prinzipiell sowohl für Szenen, die in meinem eignen Inneren als Erfahrung vorliegen, als auch für Szenen, mit denen ich durch die literarische Artikulation konfrontiert werde und in die ich mich verstricken lasse.

MH: Das klingt schlüssig. Mir scheint, durch Lorenzers Konzept der Symbolisierung wird verstehbar, was beim Lesen oder in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Literatur in uns vorgeht. So lässt sich auch erklären, wie uns diese Auseinandersetzung mit literarischen Texten zu einem späteren Zeitpunkt helfen kann. Mentalisierung wird ja ganz allgemein als »sozial-kognitive Fähigkeit verstanden, sich mentale Zustände im eigenen Selbst und in anderen Menschen vorzustellen« (Fonagy et al., 2002; zit. n. Taubner, 2016, S. 15), um darauf aufbauend Erklärungen und Vorhersagen hinsichtlich fremden Verhaltens zu bilden sowie ein Verständnis des eigenen Verhaltens zu entwickeln. Dass das im pädagogischen Feld, ganz besonders im Kontext herausfordernden Verhaltens, äußerst bedeutsam ist, machen Arbeiten zur Mentalisierungsbasierten Pädagogik klar (vgl. Gingelmaier et al., 2018; Gingelmaier & Kirsch, 2020). Ich denke, dass durch die Rezeption fiktiver Szenen oder auch erzählter innerer Vorgänge einzelner Figuren das Mentalisieren geübt werden kann, bspw. indem ich erfahre, was in einer Figur vorgeht, in die mich hineinzudenken oder einzufühlen mir besonders schwerfällt. Ich glaube, das Szenische Verstehen geht in Richtung des Unbewussten über das Mentalisieren hinaus. Auch die Einbettung in eine Sozialisationstheorie hat das Szenische Verstehen der Mentalisierungstheorie voraus. Dabei haben beide zum Ziel, die Reflexion nicht unmittelbar einsichtiger Anteile menschlichen Erlebens und Verhaltens zu fördern sowie die Bewusstheit über unbewusste Anteile an zwischenmenschlichen Interaktionen zu steigern.

AW: Was mich bei Lorenzers Konzept überzeugt, ist die im Hinblick auf Literatur wichtige Unterscheidung zwischen diskursiven und präsentativen Symbolen, z.B. sein Hinweis im Anschluss an Susanne Langer (1965), dass die Sprachkunst einerseits diskursiv aufgefasst werden kann und muss, andererseits aber bildhaft-szenisch einen Erfahrungs- und Erkenntnisraum eröffnet (Lorenzer, 1986, S. 59f.). Damit lässt sich untermauern, was du vermutest, dass die Beschäftigung mit Literatur eine Einübung in das Verstehen latenter Bedeutungen sein kann.

MH: Okay, wir sind etwas abgeschweift. Beenden wir die Diskussion des Verhältnisses von Mentalisierungstheorie und Szenischem Verstehen vorerst – sie sollte unbedingt an anderer Stelle aufgegriffen werden! Ich würde jetzt aber gerne wieder auf die Tiefenhermeneutik zu sprechen kommen. Deshalb eine Frage an dich als erfahrene Lehrkraft: Was sind deine Erfahrungen aus dem Literaturunterricht? Funktioniert bzw. wie funktioniert ein tiefenhermeneutischer Literaturunterricht mit Schülerinnen und Schülern?

AW: Da hat Hirblinger (2001, 2011) einiges an Anschauungsmaterial geliefert. In Bezug auf meinen persönlichen Werdegang möchte ich mit einer didaktischen Einordnung beginnen: Ich bin ausgebildet worden, als sog. »offener« Unterricht en vogue war. Dessen Prinzipien hat für mich am überzeugendsten Jürgen Kreft (1977) auf Literatur bezogen. Er hat zwar nicht auf Lorenzer verwiesen, sondern auf Jürgen Habermas, aber im Konkreten war alles, was er sagte, sehr gut mit der Tiefenhermeneutik vereinbar. Es ging ihm darum, den Reaktionen von Schüler/innen auf literarische Texte Raum zu geben, sowohl was die Artikulation von Leseeindrücken anbetraf als auch im Hinblick auf eine daraus hervorgehende Interpretation in der Klassengruppe. Meine Erfahrung mit Tiefenhermeneutik hat mich befähigt, diesem Anspruch eines offenen Literaturunterrichts zu entsprechen. Ich war dadurch etwas fähiger, die Einfälle und Eindrücke der Schüler/innen ernst zu nehmen und das, was sie vortrugen, wertzuschätzen. Durch die Erfahrungen in den Seminaren von Lorenzer bzw. durch sein Vorbild konnte ich Abstand nehmen von der unheilvollen Logik eines auf Effizienz und Quantifizierbarkeit ausgerichteten Unterrichts, wie ihn auch heute noch die institutionellen Bedingungen und Vorgaben aufnötigen: Es zählt, was sicher vorherzusehen und zu planen ist, was objektiv bewertbar, abfragbar und benotbar ist. Hinzufügen möchte ich: Die Wirksamkeit dieser Institutionslogik ergibt sich u.a. daraus, dass sie sowohl der Disziplinierung der Schüler/innen dient als auch die Ängste der Lehrkräfte vor Überforderung beschwichtigt.

Du siehst, ich bin ein bisschen vorsichtig mit der Präsentation von »Nutzeffekten« tiefenhermeneutischer Einsichten und Fähigkeiten. Hirblinger erscheint mir in diesem Zusammenhang oft etwas forsch in der Darstellung seiner Deutungs- und Interventionskompetenz. Wichtig ist es mir zu betonen, dass meine Orientierung an der Tiefenhermeneutik mein Interesse am Literaturunterricht bis zu meiner Pensionierung wachgehalten hat, weil ich ja nie die Texte bearbeitet habe – die blieben ja im Wesentlichen dieselben und wiederholten sich –, sondern die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler auf die Texte. Und die waren immer wieder neu, ebenso wie meine eigene Reaktion sich ständig veränderte und entwickelte.

MH: Und wie hat dir selbst die Auseinandersetzung mit literarischen Texten weitergeholfen, den Aufgaben deines Berufs zu begegnen?

AW: Lass mich am Gesagten anknüpfen. Die Erfahrungen mit Tiefenhermeneutik halfen mir dabei, in all der wahrlich oft chaotischen und überfordernden Praxis ein bisschen Offenheit zu wahren und der Neigung zu widerstehen, stets abzuwehren, zu ordnen und zu disziplinieren. Ich musste nicht alles Unvorhergesehene gleich als Angriff auffassen, konnte mich verstehend auf Neues einlassen, konnte ein wenig besser mit meiner Angst vor dem Versagen und der bedrohlichen Übermacht der Gruppen umgehen. Ich konnte besser ohne den Schutz zynischer institutioneller Regeln auskommen, was besonders wichtig wurde, als ich Schulleitungsfunktionen übernahm. Das betraf nicht nur meinen Unterricht, sondern auch die Beratungsgespräche, die ich mit Schüler/innen und Eltern führte. Als junge Lehrkraft stellt hier der Generationenunterschied ein Problem dar. Zudem ist oft eine Konfliktkonstellation zu bewältigen, in der z.B. die Parteilichkeit von Eltern für ihre Kinder zu immensem Legitimationsdruck führt. Die Relevanz szenischen Verstehens in Beratungskontexten wird in einem Beitrag von Urte Finger-Trescher (2022) zur Dynamik solcher Situationen anschaulich.

Weit davon entfernt, souverän auf alle Konflikte in meinen Beziehungen zu Schüler/innen oder Kolleg/innen zu reagieren oder aufgrund eines tiefgehenden Verständnisses immer optimale »fördernde Dialoge« gestalten zu können, hatte ich doch ein bisschen Raum, um das Gegenüber zu sehen und ansatzweise zu verstehen. Wie solcher Raum entsteht, habe ich einleitend in Lehrerbildung und Szenisches Verstehen (2007, S. 3ff.) geschildert: Einmal bemerkte ich, wie eine aktuelle Konfliktszene mit einem Schüler strukturell der Konfliktkonstellation einer Kafka-Erzählung, die ich gerade mit den Schüler/innen besprach, ähnelte und wie ich in meiner Rolle soeben genauso fatal reagiert hatte wie die dargestellte Vaterfigur. Das hatte mich zwar nicht vor meiner Verbissenheit und autoritären Geste bewahrt, erlaubte mir aber immerhin im Nachhinein, mich bei dem Schüler, den meine Aggression getroffen hatten, zu entschuldigen und gemeinsam mit den Schüler/innen den Konflikt zu reflektieren.

MH: Was du hier in Bezug auf Beratung und Elternarbeit sagst, kann ich aus den Erfahrungen heraus bestätigen, die ich in meinem Seminar zu literarisch angeregter Selbst- und Praxisreflexion machen konnte. Ich biete die Veranstaltung mit dem Titel »Wenn Lehrkräfte Romane lesen« im dritten Semester in Folge an, du warst ja mal bei uns zu Gast. Einmal pro Woche kommen Studierende der Sonderpädagogik zusammen, um sich über ihre Erfahrungen mit einem ausgewählten literarischen Text auszutauschen. Bei der Moderation des Seminargesprächs orientiere ich mich an der Methode des »Literarischen Unterrichtsgesprächs« gemäß dem sog. Heidelberger Modell (Steinbrenner et al., 2011). Das Modell beruft sich auf die themenzentrierte Interaktion, was ich insbesondere im Hinblick auf das spezifische Leitungsverständnis als gewinnbringend erlebe. In der Auseinandersetzung mit den Erzählungen konnten wir uns den Lebensrealitäten nicht nur der Schüler/innen, sondern auch der Eltern gedanklich und empathisch annähern und ein Verständnis möglicher Gründe anbahnen, weshalb ihr Verhalten unserem – zumeist mittelschichtsgeprägten Erwartungen – oft nicht entspricht.

AW: Das geht schon in die Richtung meiner nächsten Frage: Während ich jetzt rückblickend geantwortet habe, möchte ich dich bitten, vorausblickend – also hypothetisch – zu fassen, was du vom Konzept des »Szenischen Verstehens«, das du als zukünftiger Pädagoge im Rahmen von Literaturinterpretationen üben möchtest, erwartest bzw. erhoffst.

MH: Ich knüpfe mal an das an, was du vorhin mit Lorenzer als den Unterschied zwischen diskursiv und präsentativ erläutert hast. Es hat mich an etwas erinnert, das ich aus einem Text von Rieger-Ladich kenne. Tatsächlich waren es, wie erwähnt, seine und Hans-Christoph Kollers Beiträge, die mir erste Antworten auf die Frage nach dem Potenzial der Auseinandersetzung mit literarischen Texten für Lehrkräfte boten. Etwas später bin ich dann zur psychoanalytischen Symbolisierungstheorie gelangt. Hier also einmal der Textausschnitt, wie ich ihn bei Rieger-Ladich gefunden habe: »Literarische Texte zeigen; sie argumentieren nicht. Indem sie uns affizieren, vermögen sie unsere kognitiven Fähigkeiten zu stimulieren: Sie wecken unser Empathievermögen und verführen uns dazu, dem Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu folgen […]. Indem sie die Verfeinerung unseres Artikulations- und Beobachtungsvermögens anregen, können sie zu einer Quelle theoretischen Wissens werden; indem sie die Schulung unseres moralischen Urteilsvermögens anregen, können sie zu einer Quelle praktischen Wissens werden« (2014, S. 359).

Die Unterscheidung zwischen praktischem und theoretischem Wissen möchte ich erstmal nicht weiter thematisieren. Auf den Aspekt der Verfeinerung unseres Artikulationsvermögens will ich auch nur kurz bezugnehmen, weil er mich an ein Leber-Zitat erinnert, auf das ich eben schon angespielt habe: »Wo Sprache und Denken als ›Probehandeln‹ ausfallen, wird blind ›agiert‹« (Leber, 1972, S. 23). Auch bei Leber könnte man also nach Argumenten für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten im Lehramtstudium suchen.

Aber zurück zu Lorenzer: Das »Zeigen« im Unterschied zum »Argumentieren« scheint mir an die Unterscheidung zwischen präsentativen und diskursiven Symbolqualitäten bei Lorenzer anschlussfähig. Darauf basieren dann ja auch das Beobachten und Artikulieren der Affekte, die beim Lesen ausgelöst werden. Auch was Rieger-Ladich als das Ziel der Erweiterung kognitiver Fähigkeiten beschreibt, lässt sich vermutlich symbolisierungstheoretisch in tiefenhermeneutische Begriffe fassen. Etwa so: Ästhetische Symbolisierungen enthalten präsentative Anteile, Szenen, die beim Lesen affektiv geprägte innere Szenen in uns anklingen lassen. Alleine und ganz besonders im Austausch mit anderen bietet sich jetzt die Gelegenheit, diese inneren Szenen einmal einer genaueren Betrachtung zu unterziehen und in der Beziehung zum Text möglicherweise besser zu verstehen. Daher sehe ich die Auseinandersetzung mit literarischen Texten als eine Chance zur Auseinandersetzung mit sich selbst, den eigenen inneren Szenen, dem eigenen Unbewussten. Sich selbst besser zu verstehen, ist natürlich immer ein ehrgeiziges Ziel. Trotzdem halte ich es für wahrscheinlich, dass dabei zumindest die Bewusstheit darüber gestärkt wird, dass unbewusste Dynamiken erheblichen Einfluss auf unser Erleben, unsere Wahrnehmung und Deutungen sowie schließlich auf unser Verhalten ausüben. Das zu reflektieren, halte ich in pädagogischen Berufen für unverzichtbar.

Rieger-Ladich spricht in diesem Zusammenhang von »Erfahrungen zweiter Ordnung«: »Ästhetische Erfahrungen sind […] immer Erfahrungen zweiter Ordnung: In der Konfrontation mit einem Kunstwerk werden wir in die Lage versetzt, uns gegenüber unseren Erfahrungen noch einmal erfahrend zu verhalten« (2014, S. 353). Wir können uns also in Selbstbeobachtung und Selbstverstehen üben, indem wir unsere Erfahrungen mit dem Kunstwerk reflektieren, besonders wenn wir sie mit anderen teilen. Mit Lorenzer könnte man auch sagen: »Der Interpret deutet nicht den Text, sondern seine Leseerfahrung« (2006, S. 199).

Einen weiteren Vorzug dieser Form der Auseinandersetzung mit pädagogisch relevanten Sachverhalten bringt das Setting mit sich, in dem das Lesen in der Regel stattfindet: »Und all dies geschieht unter privilegierten Umständen: ohne Zeitdruck, ohne Handlungsdruck, und ohne den Zwang der Konventionen. Wir sind, als Leser/innen, in der komfortablen Lage, die handelnden Akteur/innen aus unterschiedlichen Perspektiven beobachten zu können oder auch den Konjunktiv zu bemühen und alternative Szenarien durchzuspielen« (ebd., S. 359).

Darin sehe ich eine wertvolle Ergänzung der wissenschaftlichen Vorbereitung auf herausfordernde Situationen in der Praxis. Was in Ausbildungssituationen häufig kognitiv fokussiert und rational bzw. rationalisierend erfolgt, könnte um sinnliche Symbolisierungen erweitert werden. In der ästhetischen Literatur können wir beispielhafte Fälle und Situationen finden, an denen wir einmal gedanklich probehandeln können – mit dem Vorteil, dass wir in besonderem Maße affektiv-emotional und auf einer unbewussten Ebene angesprochen werden. Das ist grundsätzlich auch unter Rückgriff auf Fallschilderungen im herkömmlichen Sinne möglich und findet durchaus auch so statt. Literarische Texte laden jedoch gemäß meiner Erfahrung noch eher dazu ein, über ein »vernünftiges« Nachdenken hinauszugehen und frei zu assoziieren. Ich vermute, das hat mit ihrer Rahmung als Kunstwerke zu tun, wodurch die Versuchung der vorschnellen Lösungsfindung im Austausch über den literarischen Fall weniger stark sein dürfte. Das kann helfen, intra- und interindividuelle Denk- und Fühlräume zu weiten und offen zu halten. Einen weiteren Grund sehe ich in der ästhetischen Sprache, die wir bereits diskutiert haben. Das Erzählen in der Literatur ist zwar in vielen Fällen nicht eindeutig vom Erzählen im Alltag oder in Form klassischer Fallschilderungen zu unterscheiden – vielmehr handelt es sich jeweils um mehr oder weniger verschiedene Ausprägungen desselben, nämlich des Erzählens. Ricoeur bspw. spricht in diesem Zusammenhang von fiktionalem Erzählen als »quasi-historisch« und von Geschichte im historischen Sinne als »quasi-fiktiv« (Ricoeur, 1991, S. 308; vgl. auch Eagleton, 1997, S. 1ff.). In der Regel ist aber davon auszugehen, dass gewisse, bspw. metaphorische, imaginative oder fingierende, Sprachverwendungen in literarischen Texten deutlich häufiger zu finden sind als andernorts.

Lernende »können in ihrem sprachlichen Selbstausdruck davon profitieren, weil sie in die Lage versetzt werden, Sprachelemente des literarischen Textes in ihre eigene Sprache aufzunehmen und damit ihr Repertoire an Selbstreflexivität und Artikulation deutlich zu erweitern. Die ›geliehene‹ Sprache […] enthält das Potential, auch das tatsächlich Unverstandene des eigenen Lebens zur Sprache zu bringen, worin sich eine wichtige Dimension des Literarischen – die der Symbolisierung des Unbegreiflichen – erfüllt« (Härle, 2014, S. 61f.).

Meines Erachtens wird den besprochenen Aspekten in der Lehrkräftebildung noch zu wenig Beachtung geschenkt. Die Auseinandersetzung mit literarischen Texten könnte diesem Defizit entgegenwirken. Ich gehe aber nicht von einer absoluten Überlegenheit der Arbeit mit literarischen Texten gegenüber der Arbeit mit üblichen Fallschilderungen aus; am sinnvollsten wäre es sicher, die jeweiligen Vorteile beider Textsorten auszunutzen.

Unter Rückgriff auf Rieger-Ladich habe ich jetzt also einmal versucht, deine Frage zu beantworten und dabei einen Wissenschaftler bemüht, der nicht aus der Psychoanalyse oder Tiefenhermeneutik kommt. Vielleicht kannst du meine Verweise auf Lorenzers Symbolisierungstheorie und sein Konzept des Szenischen Verstehens aus deiner Sicht ergänzen?

AW: Du hast es bereits erwähnt: Mit Rieger-Ladich bekommen wir in anderen Formulierungen Hinweise auf die Relevanz von Literaturrezeption geliefert. Aber dieser Relevanzbestimmung fehlt der sozialisationstheoretische Unterbau, den Lorenzer mit seiner psychoanalytischen Analyse der Persönlichkeitsentwicklung und der subjektiven Strukturen liefert. Deine Schlussfolgerungen würde ich unterstützen: Es sollten institutionelle Räume in der Ausbildung von Pädagog/innen geschaffen werden, in denen in der Auseinandersetzung mit literarischen Symbolisierungen subjektive Erfahrungen gemacht, artikuliert und reflektiert werden. Aber ich möchte auf die notwendigen institutionellen Bedingungen dafür hinweisen, dass dieser Anspruch eingelöst werden kann: Ohne einen großzügigen zeitlichen Rahmen zur Entfaltung von Verstehensprozessen in der Gruppe, ohne versierte Moderator/innen und eingezwängt in hierarchische Strukturen und Zensurendruck können tiefenhermeneutische Interpretationsprozesse nicht gelingen. Stattdessen entsteht das Risiko, dass rationalisierende »wilde« Analyse (vgl. Freud, 1910k) konkretes Verstehen ergänzen.

Wie eine tiefenhermeneutische Interpretation etwa aussehen könnte, möchte ich einmal an einem sehr kurzen Text Kafkas veranschaulichen, ohne allerdings den Anspruch zu erheben, mit meiner Skizze bereits unbewusste Bedeutungen zu fassen: »Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar« (Kafka, 1997, S. 9).

Was macht der Text mit uns, welche Bilder ruft er wach, welche inneren Konfliktlagen spricht er an:

Er beginnt mit einem Kausalsatz, mit der Konjunktion »denn«, ohne anzugeben, was begründet wird. Spontan behelfe ich mich damit, den ersten Satz in einen Aussagesatz zu verwandeln und als These aufzufassen: »Wir sind wie Baumstämme im Schnee«. In der folgenden Erläuterung, die ich unwillkürlich als Argumentation aufnehme, bin ich mit der Gegenüberstellung eines Scheinbaren und eines Wirklichen, Tatsächlichen konfrontiert. Sie mündet in die Rücknahme der zuvor als sicher dargestellten Tatsachensicht. So bleibt nicht nur der Anfang im Ungewissen, sondern auch das Ende: Am Anfang weiß ich nicht, worauf sich die begründende Formulierung bezieht, am Ende bleibe ich unsicher, was denn nun tatsächlich der Fall ist. Dazwischen ein Pendeln zwischen Augenschein und Wissen, verknüpft mit dem evozierten Bild des dunklen Baumstammes, der in extremem Dunkel-Hell-Kontrast an das grelle Weiß der Schneefläche stößt. Der vorgenommene Vergleich mit den Bäumen lässt offen, ob »wir« nun leicht beweglich sind und selbst minimalen äußeren Anstößen folgen oder ob wir fest in der Erde verankert, also standhaft sind.

So werden bildhaft-vergleichende und widersprüchliche Aussagen zu meiner Identität sprachlich in einen seinerseits offenen und fraglichen Kontext gestellt. Was durch den Appell »Sieh!« den Gestus einer aufklärerischen Orientierung gewinnt, erweist sich als Hinweis auf eine gründliche Desorientierung und bewirkt sie in mir ganz unmittelbar bei der Lektüre.

In einer Interpretationsgruppe könnte ich den Hauptsatz zur Diskussion stellen, der für mich stimmig vorangehen könnte und dabei eine Konkretisierung auf meine berufliche Identität als Pädagoge aufnehmen: Wir sind als Pädagog/innen permanent mit Unsicherheiten konfrontiert, auch mit der Unsicherheit unserer eigenen Identität, denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.

Vorausgesetzt, das skizzierte Verständnis sei einigen Gruppenmitgliedern einsichtig, wäre folgender Diskussionsverläufe vorstellbar: Selbstreflexiv könnte in der Gruppe artikuliert werden, welche Szenen den Teilnehmenden einfallen, in denen sie sich »mit kleinem Anstoß« verschiebbar fühlen, und man könnte der Frage nachgehen, welche Anstöße das sein könnten. Es könnte zum Austausch über Szenen kommen, in denen die Gruppenteilnehmer/innen standhaft handeln konnten bzw. sie könnten ertasten, inwiefern das nur »scheinbar« so war. Auch wäre es eventuell naheliegend, Szenen zu erinnern oder durchzuspielen, in denen Interaktionspartner in irritierender Sicherheit oder Unsicherheit wahrgenommen wurden oder werden. Es könnten die Fragen diskutiert werden: Wie steht es mit den Lehrkräften, die Teilnehmende aktuell kennen oder von denen sie früher einmal selbst unterrichtet wurden und ihrem so geprägten Bild von Lehrer/innen, ihrer Lehrer-Imago?

Methodisch wäre es eine Einübung in die Wahrnehmung von Interaktionsszenen, hier konkret die Konstellation zwischen beschneitem Boden und schwarzem Stamm. Der kurze, zunächst so paradox wirkende Text Kafkas erlaubt es den Interpretierenden, dieses Zusammenspiel Baum – Boden auf eigene Erlebnisszenen und eigene (Selbst-)Wahrnehmung zu beziehen und zu reflektieren, welche Unsicherheiten, welche Ambivalenzen in ihnen virulent sind und ihr Selbstgefühl, ihre Identität bestimmen.

MH: Ausgehend von deiner beispielhaften Erläuterung des Kafka-Textes will ich abschließend versuchen, die Potenziale der tiefenhermeneutischen Auseinandersetzung mit Literatur im Lehramtsstudium zusammenzufassen:

Erstens kann sie zur Auseinandersetzung mit mir selbst als angehender Lehrkraft anregen. Durch die Textinterpretation erhalte ich die Gelegenheit zur Deutung meiner eigenen Deutung, man könnte auch sagen zur Wirkungsanalyse am eigenen Beispiel. So können selbstreflexive Prozesse zu einer Art Selbstaufklärung beitragen. Im Idealfall hat das zur Folge, dass ich mich selbst in pädagogischen Interaktionen reflektierter, bewusster verhalten kann. Das wäre dann sozusagen die vorbereitende, präventive Leistung tiefenhermeneutischer Literaturinterpretationen im Lehramtsstudium.

Zweitens kann im Umgang mit literarischen Texten die Reflexion auch realer Interaktionsszenen z.B. zwischen mir als Lehrkraft und meinen Schüler/innen geübt werden. Indem ich diese Szenen assoziativ und sensibel für eigene Irritationen auf mich wirken lasse, kann ich sie hinsichtlich ihrer latenten Dynamiken besser verstehen, nachdem sie sich abgespielt haben – also sozusagen nachbereitend.

Durch den Austausch über verschiedene Textverständnisse bspw. innerhalb einer Seminargruppe könnte außerdem der Umgang mit Mehrdeutigkeit und interindividuell abweichenden Deutungen herausgefordert werden. Hier eben zunächst anhand der Textinterpretation und somit als Vorbereitung auf uneindeutige Situationen – Szenen – im pädagogischen Alltag. Ambiguitätstoleranz, Aushalten von Ungewissheit und Anerkenntnis des Nicht-Greifbaren – all das kann im Umgang mit literarischen Texten geübt werden. Die Bedeutsamkeit dessen macht Hirblinger unmissverständlich, wenn er formuliert: »Am Anfang aller Symbolarbeit im Unterricht steht die Ungewissheit« (2011, S. 64).

AW: Schließen wir, wie wir begonnen haben, indem wir Lorenzer noch einmal zu Wort kommen lassen mit einer Betonung der kritischen und utopischen Relevanz von Kunst und Literatur: »Funktion der Künste, d.h. auch der Literatur, ist es, die unbewußten Praxisfiguren und Erlebniserwartungen in sinnlich-unmittelbare Symbole zu überführen, um so neue Lebensentwürfe in der sinnlichen Erfahrung zur Debatte zu stellen. Das schließt mit ein: Es können unbewußte Erlebniserwartungen, unbewußte Praxisfiguren gegen einen Zensor inszeniert werden. Dabei kann es um neue soziale Rezeptionsformen, neue Darstellungsformen des Erlebens, oder um das Wiederaufgreifen geschichtlich vergangener Erlebnisformen, deren Widerstandspotential gegen bestehende Verhältnisse zu reklamieren ist« (Lorenzer, 1986, S. 69).

3 Epilog: Limitationen und Ausblick

MH: Infolge der Fokussierung auf Lorenzers Impulse für eine psychoanalytisch-pädagogische Kompetenz konnten andere Ansätze hier nur angerissen werden. In Konfrontation bspw. mit der Mentalisierungstheorie sowie verschiedenen Auffassungen von pädagogischer Professionalisierung wären die spezifischen Potenziale und Limitationen der jeweiligen Konzeptionen herauszustellen. Die Arbeit mit literarischen Texten im Rahmen der Lehrkräftebildung ist auf ihre Voraussetzungen, Grenzen und Risiken zu überprüfen. So wäre bspw. zu klären, inwiefern Selbstreflexivität als Bedingung der fruchtbaren Auseinandersetzung mit ästhetischen Zeugnissen gelten muss, bevor ihre Steigerung zu deren Ziel erhoben werden kann (vgl. Liesner, 2005). Mit Blick auf psychoanalytisch-orientierte Lehrveranstaltungen wäre z.B. der Vorwurf der Therapeutisierung ernst zu nehmen und das Leitungsverständnis unter dem Aspekt der Deutungshoheit kritisch zu beleuchten. Hinsichtlich künstlerischer Ausdrucksformen neben der literarischen sei exemplarisch auf eine Publikation von Lisa Niederreiter (2021) verwiesen.

AW: Es scheint mir unstrittig, dass »Lorenzer […] als einer der originellsten (Vor-)Denker der deutschen Psychoanalyse gelten« (Schumacher, 2021, S. 117) kann bzw. ein »Vordenker interdisziplinärer Diskurse der heutigen Psychoanalyse« (Leuzinger-Bohleber, 2002, S. 21) ist. Das Potenzial seiner Konzeptionen führt mich zu Perspektiven im Anschluss an unser Gespräch: Dieses wäre in den aktuellen Diskurs über Szenisches Verstehen und die Möglichkeiten einzurücken, die dieses Konzept für förderliche Bildungsprozesse gewinnt. In diesem Sinne waren für mich beispielsweise die methodische Arbeit von Manfred Gerspach zu Verstehen was der Fall ist (2021) oder im Hinblick auf Psychoanalytische Pädagogik und Soziale Arbeit der von Günther, Heilmann und Kerschgens (2022) herausgegebene Sammelband inspirierend. Anregend für die interdisziplinäre Diskussion sind z.B. die Beiträge in Zwang und Utopie – Zum Potential des Unbewussten (von Dörr, Schmidt Noerr und mir 2022 herausgegeben). Während eine ganze Reihe von methodischen Darstellungen des tiefenhermeneutischen Verfahrens vorliegen (in naher Vergangenheit z.B. Schumacher, 2021; Gerspach, 2021; König et al., 2020; Dörr et al., 2022), gilt es m.E., in Zukunft mehr überzeugende Interpretationen von künstlerischen Artikulationen, aber auch von Interaktionsprotokollen und szenischen Schilderungen von pädagogischen Praxissituationen zu generieren. Eine eigene tiefenhermeneutische »Kasuistik« in Form überzeugender interpretativer Vorführungen der Methode könnte sowohl den erziehungswissenschaftlichen und kulturanalytischen Horizont erweitern als auch neben literarischen Texten methodische Zugänge bzw. Einstiege im Kontext einführender Interpretationsseminare ermöglichen. Gleichzeitig erscheint es mir wichtig, (selbst-)kritisch zu prüfen, inwiefern es bei den Versuchen, Lorenzers Konzepte in Ausbildung und Praxis zu integrieren, zu einer Verflachung des Erkenntnisprozesses kommt bzw. der Anspruch verfehlt wird, Unbewusstes bewusst zu machen (vgl. Würker, 2023b). Um einer solchen Trivialisierung des Konzepts entgegenzuwirken, wären (Spiel-)Räume zu finden, in der das erforderliche gelassene und offene Reflektieren in einem langen Prozess zu triftigen Erkenntnissen führen kann.

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Würker, A. (2007). Lehrerbildung und Szenisches Verstehen. Professionalisierung durch psychoanalytisch orientierte Selbstreflexion. Scheider Verlag Hohengehren.

Würker, A. (2013). Literaturinterpretation als psychoanalytische Hermeneutik. In E. Reinke (Hrsg.), Alfred Lorenzer. Zur Aktualität seines interdisziplinären Ansatzes (S. 165–184). Psychosozial-Verlag.

Würker, A., Schiefele, S. & Karlson, M. (1999). Grenzgänge: Literatur und Unbewußtes. Zu Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Königshausen & Neumann.

Würker, A. (2023a). Literarisches Erleben, Selbstreflexion und pädagogische Kompetenz. In R. Göppel, J. Gstach & M. Wininger (Hrsg.), Aufwachsen zwischen Pandemie und Klimakrise. Pädagogische Arbeit in Zeiten großer Verunsicherung. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 29 (S. 291–307). Psychosozial-Verlag.

Würker, A. (2023b). Über die Schwierigkeit, in einer Qualifizierungsarbeit das Forschungsinstrument »Tiefenhermeneutik« zu nutzen. In D. Zimmermann, L. Dietrich, J. Hofmann & J. Hokema (Hrsg.), Soziale Krisen und ihr Auswirkungen auf Familie, pädagogische Professionalität und Organisation (S. 205–220). Barbara Budrich.

Literature, reading, understanding

Alfred Lorenzer’s impulses for psychoanalytical-pedagogical competence

Summary: This article is the result of a dialogue between two scholars, one of whom was still a student of Special Education when the exchange began, the other is a retired director of studies and practicing researcher. In the conversation on which this publication is based, the two reflect on their experiences with literary texts, explain the socialisatory role of literature reception and explore the significance that literature interpretation can gain within pedagogical qualification processes. In doing so, they refer to their concrete practice leading interpretation groups at university and school as well as to theoretical literature that underpins this practice. For example, textual references to Dilthey and Gadamer, Rieger-Ladich, Fonagy, or Lorenzer come into the discussion. By means of the exemplary interpretation of a brief text by Kafka, it is shown how preconscious and unconscious life drafts can become tangible by engaging with the effects provoked in the reader. Further, it is argued how experiences in group discussions can contribute to maintaining openness and acting conducively in later pedagogical practice.

Keywords: literary interpretation, scenic understanding, teacher education, psychoanalytic pedagogy

Biografische Notizen

Moritz Heß, M. Ed., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Erziehungswissenschaften der RPTU Kaiserslautern Landau. Er forscht im biografieorientierten Strang des lehramtsbezogenen Professionalisierungsdiskurses zu Potenzialen des Einsatzes von literarischen Texten im Studium. Auf der Grundlage dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung nutzt er mit seinen Studierenden Kurzgeschichten, Romanauszüge und andere nicht-wissenschaftliche Quellen, um Austausch- und Reflexionsprozesse innerhalb der Seminargruppe anzuregen.

Achim Würker, Dr., Dr., StD i.R. und freier Wissenschaftler. Arbeitsschwerpunkte: tiefenhermeneutische Kulturanalyse und Pädagogik. Als Schüler und früherer Mitarbeiter von A. Lorenzer und orientiert an dessen Reflexionen zur psychoanalytischen Sozialisations- und Metatheorie sowie zur Methode (Szenisches Verstehen) erforscht er unbewusste Dynamiken in der Wirkung von Literatur, Filmen und anderen kulturellen Objektivationen sowie in Interaktionsprotokollen oder Gesprächstranskripten.

Kontakt

Moritz Heß
Institut für Sonderpädagogik
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Pädagogik bei erschwertem Lernen und auffälligem Verhalten
Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern Landau
E-Mail: moritz.hess@rptu.de
Tel.: 00496341280367/49

Dr. Dr. Achim Würker
Habitzheimer Str. 17
64354 Reinheim
E-Mail: achim.wuerker@gmx.de
https://www.achim-wuerker.de