Wendy Hollway & Lynn Froggett1
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik • Band 30 (2024), 171–195
https://doi.org/10.30820/0938-183X-2024-30-171 CC BY-NC-ND 4.0 https://jahrbuch-psychoanalytische-paedagogik.deZusammenfassung: In diesem Artikel ziehen wir Lorenzers Methode zur Analyse einer Einzelfallstudie heran, die im Rahmen eines Forschungsprojektes in der Tradition der Tavistock Infant Observation durchgeführt wurde. Anhand von Auszügen unserer Fallanalyse demonstrieren wir unseren methodischen Ansatz und erkunden konzeptionelles Terrain an der Schnittstelle zwischen deutschen und britischen psychoanalytisch geprägten Theorien. Unsere Szenische Komposition2 – scenic composition – kombiniert Schlüsselelemente eines Beobachtungsbesuchs bei einer jungen Schwarzen Frau in London, die zum ersten Mal Mutter geworden ist. Lorenzers Rat an die Kulturanalytiker:innen, das Irritierende oder Provozierende der Szene zu erkunden, hat Ähnlichkeiten mit dem Einsatz emotionaler Reaktionen und der Verarbeitung von Erfahrung durch die Beobachter:innen in der Tradition der Säuglingsbeobachtung. Ziel ist dabei der Zugang zu dem, was Winnicott als einen Zwischenraum der Erfahrung beschreibt und was Lorenzer als »Dazwischen« betrachtet. Wir erkunden diesen Raum anhand zweier Provokationen3 – provocations – in unserer Szenischen Komposition. Auf Grundlage unseres Datenmaterials fragen wir: Ist es möglich, kollektive, gesellschaftlich-kulturelle unbewusste Prozesse (Lorenzer, 1986) innerhalb dieses Zwischenraums zu konzeptualisieren? Konkret: Wie sind Rassen- und Klassendifferenzen in der Szene präsent? Wie lassen sie sich durch Szenisches Verstehen von Forschungsmaterial sichtbar machen? Und schließlich stellt sich die Frage nach der Bedeutsamkeit all dessen.
Schlüsselwörter: Psychoanalyse, Kulturanalse, psychosozial, Szene, Szenisches Verstehen, Säuglingsbeobachtung, Symbolisierung, gesellschaftlich-kollektives Unbewusstes, Übergangsraum
In diesem Artikel werden Lorenzers Konzepte mit der psychosozialen Analyse von Datenmaterial aus einem empirischen Forschungsprojekt in Verbindung gebracht. Das Ziel psychosozialer Forschung ist die Erkundung von Verstehensweisen, die sich weder auf psychologische, noch auf soziale Erklärungen beschränken und die ihre Erklärungen nicht unkritisch entweder »im Individuum« oder »in der Gesellschaft«4, bzw. entweder in »inneren« oder in »äußeren« Welten suchen. Wir halten Lorenzers Konzept des Szenischen Verstehens (1986) für nützlich, um ein solches binäres Denken aufzubrechen. Unsere Datenanalyse ist von einer ähnlichen Absicht geleitet. Unser Material bietet folglich Gelegenheit zum Dialog zwischen zwei verschiedenen Formen psychosozialen Verstehens – Lorenzers Ansatz, der sich im Rahmen der deutschen postfranzösischen Schule entwickelt hat, und dem der britischen Objektbeziehungstheorie. Die Idee eines »Zwischenbereichs«, der »zwischen« Realität und Vorstellung liegt, ist diesen beiden Ansätzen gemeinsam. Wir beziehen uns auf einen Aufsatz von Lorenzer und Orban (1978), in dem Donald Winnicotts Konzept eines Zwischenraums der Erfahrung zwischen »innerer« und »äußerer« Wirklichkeit (Winnicott, 1985) diskutiert wird. Bei der Analyse der Beobachtungsdaten bringen wir sowohl Lorenzers als auch Winnicotts Konzepte zur Anwendung. Auf diese Weise findet Lorenzers Schlüsselkonzept der »Szene« Eingang in einen aufstrebenden Bereich der britischen psychosozialen Forschung und kommt so mit einer anderen psychoanalytischen und sozialwissenschaftlichen Tradition in Kontakt. Es wird untersucht, inwiefern sich die beiden Konzeptionen gegenseitig ergänzen können.
Als einen weiteren Nutzen unserer Methode der Szenischen Komposition, verstanden als eine Variante der Fallskizze oder -vignette, demonstrieren wir die lebendige und visualisierte Darstellung des Datenmaterials. So soll die emotionale Resonanz des Materials während der Datenanalyse und für die Lesenden bewahrt werden (für eine Analyse mit Schwerpunkt »Visuelle Daten« siehe Froggett & Hollway, 2010). Wir setzen die Methode des Szenischen Verstehens in Beziehung zum zentralen Thema dieses Artikels – einem »Zwischen«-Bereich der Erfahrung (Die Frage »Was ist dazwischen?« lassen wir vorerst offen. Eine mögliche Antwort wird sich im Laufe des Artikels ergeben). Abschließend widmen wir uns der Überlegung, wie unbewusste Dimensionen der kollektiven Erfahrung, die in Lorenzers Konzeptualisierung der Szene impliziert sind, unser Verständnis der gesellschaftlichen Dimension innerhalb der intersubjektiven Interaktionen informieren können.
Stellen Sie sich die folgende Szene vor: Im Wohnzimmer einer beengten Sozialwohnung im Osten Londons sind drei erwachsene Personen und ein Säugling versammelt. Calise und Anthony, beide 17 Jahre alt und afrikanisch-karibischer Abstammung, sitzen da und blättern in den Stellenanzeigen einer Londoner Zeitung. Calise hält ein kleines, elf Wochen altes Baby auf dem Arm, das nach vorne schaut und sabbert. Anthony ist in bester Laune und feiert seinen Prüfungserfolg. Eine Weiße Frau in den Vierzigern sitzt aufmerksam da, sieht das Baby an und fragt Calise, wie es ihr und dem Baby gehe. Sie fragt, ob der junge Mann ein Onkel sei. Calise lacht und antwortet: »Nein, Mann, hä, was für ein Onkel? Er ist ein guter Freund, nicht wahr, Anthony?«. Calise und Anthony unterhalten sich in jugendlichem Ton und die ältere Frau beobachtet weiterhin das Baby, ohne sich von Anthonys guter Laune anstecken zu lassen. Im Fernseher läuft auf niedriger Lautstärke ein MTV-Sender, der Reggae und Hip-Hop spielt. Aus einem Schlafzimmer ertönt laute Musik, ein anderer junger Mann kommt heraus, schaut kurz und geht dann den Flur entlang. Die Frau, die das Baby beobachtet, verspürt ein leichtes Unbehagen, das sie als ein Gefühl von »Was macht diese Person hier?« wahrnimmt und registriert.
Calise setzt das Baby in seinen Kinderstuhl und sie und Anthony besprechen Gesprächstechniken, um sich telefonisch nach einem Arbeitsplatz zu erkundigen. Anthony spielt das Gespräch mit einem potenziellen Arbeitgeber nach: »Ja, em, guten Tag. Mein Name ist David Harding und ich frage mich, ob Sie freie Stellen haben. Oh, Sie wollen Leute mit sehr guten Noten, mehr als ein GCSE5, besser als eine D-Note? Ja, also ich denke, das kann ich erfüllen, ich habe acht. (Pause) Ja, wir sind zwanzig und wir sind alle ›Hoodies‹6, ist das okay?« Anthony fordert dann Calises Bruder auf, er solle »diese Schwarze Musik runterdrehen, ey [yar]. Wie kannst du das Zeug nur so laut laufen lassen? Mach das leiser!«7
Sowohl die Tradition Lorenzers als auch die Tradition der Objektbeziehungstheorie legen Forscher:innen nahe, die emotionale Wirkung des Lesens als Zugang zum Text zu nutzen. Einen solchen Ansatz verfolgen wir bei der Datenanalyse, die wir vorstellen. Bevor wir fortfahren, möchten wir jede:n Leser:in bitten, diese Wirkung im Lichte ihrer eigenen Reaktionen zu betrachten.
Der Auszug, dem die Szene entnommen ist, stammt aus einer Beobachtungsnotiz der Beobachterin der Szene, die in der Methode der »infant observation« ausgebildet wurde, die an der Tavistock-Klinik von Esther Bick für die Ausbildung von Psychotherapeut:innen und verwandten Berufsgruppen entwickelt wurde (Bick, 1964; Miller, 1989). In den letzten Jahren hat diese Methode ihren Anwendungsbereich auf Forschungskontexte ausgeweitet und die Ausbildung geht inzwischen über die Säuglingsbeobachtung im häuslichen Umfeld hinaus (Urwin, 2012). Damit stellt sie der psychosozialen Forschung eine psychoanalytisch-erkenntnistheoretisch informierte Beobachtungsmethode zur Verfügung, die sich nicht auf den Diskurs, sondern auf die verkörperten Ausdrucksformen konzentriert. Das Projekt aus dem dieses Material stammt, befasste sich mit den Identitätsveränderungen, die auftreten, wenn Frauen zum ersten Mal Mutter werden. Die Erhebungen fanden im Ostlondoner Stadtbezirk Tower Hamlets statt, der von einer ethnischen, religiösen und klassenmäßigen Vielfalt geprägt ist. Die Säuglingsbeobachtung wurde dabei in Kombination mit der Methode des »narrativen Interviews mit freier Assoziation« (Hollway & Jefferson, 2012) eingesetzt.8 Es war das erste Mal, dass die Methode der Säuglingsbeobachtung im Rahmen eines geförderten Forschungsprojektes Anwendung fand.9 Sechs geschulte »infant observers«, die dem Forschungsteam angehörten, beobachteten einmal pro Woche jeweils eine größere Stichprobe von Müttern während des ersten Lebensjahres ihres Babys. Säugling und Mutter wurden genau beobachtet, wobei Notizen erst nach Beendigung der Sitzung angefertigt wurden.
Das Prinzip besteht darin, dass Wissen, Theorie etc.
»während des Beobachtens und Aufzeichnens beiseitegelassen werden, um die Erfahrung selbst wirken zu lassen […]. Ein neues Konzept des Beobachters kommt zum Einsatz […] hier sind die Wahrheiten, die uns interessieren, emotionale Wahrheiten. Der Beobachter kann sie nicht wahrnehmen, ohne aufgewühlt zu sein […]. Richtig verstanden ist der emotionale Faktor ein unverzichtbares Werkzeug, das im Dienste eines besseren Verständnisses eingesetzt werden kann« (Miller, 1989, S. 2f.).
Die Methode der Säuglingsbeobachtung wird mit einem wöchentlichen Seminar kombiniert, in dem sich die Gruppe der angehenden Beobachter:innen trifft, um gemeinsam die Auswirkungen der laufenden Beobachtung zu verarbeiten. Das Seminar wir von einer/einem erfahrenen psychoanalytische geschulten Beobachter:in geleitet, dessen/deren Aufgabe darin besteht, »auf der Grundlage der verfügbaren Evidenz die emotionalen Ereignisse zwischen Säugling und Mutter sowie zwischen der Mutter und den anderen während der Beobachtung anwesenden Familienmitgliedern zu erforschen« (Rustin, 1989, S. 7). Die Seminarsitzungen verteilen sich in der Regel über einen Zeitraum von zwei Jahren (in diesem Projekt ein Jahr). Im Forschungsprojekt wurde diese Aufgabe insofern leicht modifiziert, als sich die Beobachtung auf die Erfahrungen der Mütter konzentrierte. Die Ressourcen der Gruppe werden genutzt, um der Beobachterin zu helfen, über eine Erfahrung nachzudenken, die emotional anspruchsvoll ist. So soll der reflexive Gebrauch von Subjektivität als Erkenntnisinstrument unterstützt und die Gruppe zu ermutigt werden, »Intuition mit Evidenz zu widerlegen« (Urwin, 2007b, S. 245). Judith Edwards (2008, S. 61) erläutert drei Gelegenheiten, um das Beobachtete zu erleben und ihm Bedeutung zuzuschreiben: in der eigentlichen Beobachtungssituation, während des Schreibens der Notizen und durch das Seminar. Andere Gruppenmitglieder können verschiedene Perspektiven einbringen, aus denen heraus die Beobachtungen verstanden werden können.
Die Beobachtungsnotizen zeichnen sich durch eine detaillierte Beschreibung von Aspekten der Umgebung und der Aktivitäten aus: materiell und räumlich, praktisch und beziehungsmäßig. Mit dieser Methode üben die Beobachter:innen nonverbale, verkörperte Aspekte der Kommunikation sowie emotionale Zustände wahrzunehmen. Diese Vorgehensweise wurde gewählt, um über bewusstseins- und gesprächsbasierte Methoden hinauszugehen, in dem Wunsch, eine Reihe weiterer Register aufzunehmen, vom Ungesagten bis hin zum Unsagbaren; das sind diejenigen, die im Körper residieren und durch ihn zum Ausdruck gebracht werden. Anstatt beispielsweise anzunehmen, ihr Gefühl ein Eindringling zu sein, sei nur ihr Gefühl, oder es andererseits in Calises Bruder zu verorten, belässt sie es im Dazwischen. In ihrer Beobachtungsnotiz heißt es: »Das Gefühl, das ich habe, ist ›Was macht diese Person hier‹?« Diese Formulierung evoziert ihr Empfinden der »Dazwischen-heit« [in-between-ness] der Erfahrung. Sie ist in eine Grammatik gegossen, die die Problematik verschwimmen lässt, wem die Frage gehört und was sie hier macht (indem sie sich selbst als »diese Person« fasst und den Ursprung des Gefühls weder bei sich selbst noch beim Bruder verortet).
Die Konzeption des Zwischenbereichs der Erfahrung betreffend gibt es gewisse Übereinstimmungen zwischen Alfred Lorenzer und Donald Winnicott, einem britischen Psychoanalytiker im Zentrum der Objektbeziehungstheorie. Winnicott konzipiert diesen Zwischenbereich als einen Bereich zwischen dem, was subjektiv empfunden wird, und dem, was die Qualität der Äußerlichkeit hat. In Lorenzers Begriffen ist es der Bereich zwischen »subjektiver Phantasie« und »konkreter sozialer Realität«, und in diesem Raum verortet er das Szenische Verstehen (siehe Salling Olesens Einführung zu Lorenzer in dieser Ausgabe). Wir werden später auf die Bedeutung des Szenischen Verstehens in Bezug auf Forschungstexte eingehen, merken aber bereits an dieser Stelle an, dass Lorenzer die subjektiven Ideen und Fantasien des/der (kulturellen und sozialen) Analytiker:in nicht als von der »konkreten sozialen Wirklichkeit« getrennt oder undiszipliniert ansieht; er versucht, das Psychologische und das Soziologische zusammenzudenken. Tatsächlich kritisieren Lorenzer und Orban (1978, S. 477) Winnicott – ob zu Recht oder nicht – für das Postulat einer »a-priori-Koexistenz von ›Subjektivität‹ und ›Objektivität‹, die in einen Zwischenbereich mündeten«. Stattdessen beschreiben sie die Entwicklung von »Interaktionsformen« aus den frühesten Reiz-Reaktions-Mechanismen des Fötus und durch den undifferenzierten Prozess der primären (präsymbolischen) Sozialisation. Die Interaktionsformen würden verkörpert und im zentralen Nervensystem »gespeichert«, wo sie die unbewusste Gestalt bildeten, die die Lebenserfahrungen organisiere: »Alle Differenzierung verläuft gemäß dem Bauplan der sensomotorischen Komplexe« (ebd., S. 476).
Trotz dieses Vorbehalts macht Lorenzer deutlich, dass Winnicotts Vorstellung der Übergangsphänomene insofern mit dem Konzept der Interaktionsformen in Einklang zu bringen sei, als beide in einem Zwischenbereich aufträten, in dem der Säugling Objekte mit einer Bedeutung versieht, sodass sie weder von innen noch von außen zu kommen scheinen: In Winnicotts (1985) Konzeption »entdeckt« der Säugling, was da zu »finden« ist, in Form eines Übergangsobjekts. In Playing and Reality (1985 [1971]) beschäftig sich Winnicott auch damit, wie Gefühle an der Realität getestet und »ausprobiert« werden können. Dieses Verhalten, das er als Mittel zur Relationierung »innerer« und »äußerer« Realität sieht, ist eine Form der Verspieltheit, die von der Vorstellung – imagination – abhängt und die später in religiösen und kulturellen Phänomenen ihren Ausdruck findet. Eines von Winnicotts Hauptinteressen gilt den Bedingungen dieser Wirklichkeitsprüfung, die erstmals im Säuglingsalter im Kontext des mütterlichen Haltens auftritt. Indem die Mutter den Säugling in ihren Armen und in ihrer Psyche – mind – hält, schafft sie eine sichere Umgebung, in der der Säugling einen potenziellen Raum zwischen subjektiver Erfahrung und der Welt, wie sie sich darstellt, einnehmen kann. In diesem Zwischenbereich der Erfahrung muss das Paradox des entweder erdachten oder in der »äußeren« Realität existenten Säuglings nicht aufgelöst werden.
»Über das Übergangsobjekt lässt sich sagen, dass es zwischen uns und dem Säugling eine Übereinkunft gibt, dass wir niemals die Frage stellen werden: Hast du dir das ausgedacht oder wurde es dir von außen gegeben? Der wichtige Punkt ist, dass keine Entscheidung in diesem Punkt erwartet wird. Die Frage ist nicht zu formulieren« (ebd., S. 12).
Für Lorenzer ist die Bildung von Übergangsobjekten und -phänomenen, die aus der undifferenzierten Einheit von Selbst und Objekt hervorgehen, eine Vorstufe zur Symbolisierung; sie geht so der Entstehung symbolischer Interaktionsformen in der Sprache voraus. An diesem Punkt können die Übergangsobjekte und -phänomene benannt werden, sie nehmen eine zeitliche und räumliche Dimension an und werden innerhalb eines kulturellen Feldes wirksam. Aber selbst als vor-symbolische Interaktionsformen haben sie einen unbewussten sozialen (und damit kollektiv hervorgebrachten) Aspekt, der in Sozialisationsprozesse einfließt.
Mit der Entwicklung symbolischer Interaktionsformen ist die Erfahrung des Säuglings nicht länger ein undifferenziertes Kontinuum zwischen dem Selbst und der Welt, sodass es zu einem potenziellen Auseinanderfallen zwischen der subjektiven Fantasie und der konkreten Realität kommt. Dies wird in der Szene als ein Mangel an »Passung«, als Irritation oder Provokation10 erlebt, wo etwas, das noch nicht symbolisiert worden ist, in die Sprache »drängt«. Für die Kultur- oder Forschungsanalyst:innen sind diese Provokationen ein methodologischer Ansatzpunkt zur Erschließung eines Textes.
Da für Lorenzer subjektive Erfahrung gleichzeitig individuell, verkörpert, relational und sozial ist (Salling Olesen, 2012), muss empirische Forschung diese Ontologie widerspiegeln. Sein Konzept des Szenischen Verstehens würde »einen Prozess implizieren, in dem Forschende ihre affektive und verkörperte Erfahrung ihrer Daten reflektieren« (Redman et al., 2010, S. 217). Dem entsprechend demonstriert Cathy Urwin, die Seminare zur Säuglingsbeobachtung im Forschungskontext des »Mutterwerdens« leitet, die Verwendung und den Nutzen von Gefühlen des Schocks (Urwin, 2007b), der Überraschung (Urwin, 2012) und der Verwirrung (Urwin et al., in Vorb.) bei der Datenanalyse. Wenn die Beobachterin im eingangs vorgestellten Fall notiert, wie das Erscheinen des Bruders in ihr das Gefühl auslöste, sie sei ein Eindringling, folgt sie einem zentralen Prinzip der psychoanalytischen Beobachtung, indem sie ihre emotionalen Reaktionen in einem Register notiert, das sie sorgfältig von einer detaillierten und beschreibenden Beobachtung der Umgebung sowie der Szene trennt. Im Erkunden der Provokation ist Lorenzers Methode der psychoanalytischen Säuglingsbeobachtung sehr ähnlich.
Einmal registriert, bringt diese emotionale Reaktion des (Daten-)Analytikers oder der (Daten-)Analytikerin die subjektive Fantasie und die konkrete soziale Realität zusammen: »Texte sind keine […] zu füllenden Leerformeln, ihre Provokation liegt in einer im Text selbst vorhandenen Qualität« (Lorenzer, 1986, S. 28).11 Hier wird impliziert, dass die Bedeutung der Provokation nicht auf das Individuelle beschränkt ist; sie kann als kollektiv verstanden werden in dem Sinne, dass subjektive Fantasien auf die notwendigerweise soziale Qualität kollektiver Erfahrung zurückgreifen, die in Interaktionsformen eingebettet ist.
Im folgenden Abschnitt begreifen und nutzen wird die Reaktion der Beobachterin, die sich »wie ein Eindringling fühlt«, als eine Schlüssel-»Provokation«, die es uns möglicherweise erlaubt, nicht nur die individuell spezifischen, sondern auch die kollektiven Aspekte der Erfahrung aufzuspüren, die im intermediären Bereich auftauchen. Die Methode erfordert, dass wir, die Analytikerinnen, die Provokation in unserem eigenen Erleben notieren und darüber nachdenken. Wir tun dies in chronologischer Reihenfolge, zuerst Wendy Hollway und dann Lynn Froggett.
Hollway schreibt:
»Wie auch die Beobachterin12 kann ich mir vorstellen, wie Calises Bruder wortlos die Frage übermittelt, warum diese Frau da im Wohnzimmer sitzt, denn das passt zu dem, was ich mir als wahrscheinliche Realität der Situation vorstelle. Ich identifiziere mich mit ihr und frage mich, wie sie es geschafft hat das Gefühl, ein Eindringling zu sein, so weit zu überwinden, dass sie ihre Arbeit fortsetzen konnte. Durch ihre Notizen bekomme ich auch ein lebendiges Gefühl von der guten Beziehung zwischen Calise und Anthony sowie von Anthonys schlagfertigem Humor. Ich stelle fest, dass ich die beiden Teenager mag, aber bei dem Bruder bin ich mir unsicher. Das Unbehagen hält an, als ich auf die ursprüngliche Beobachtungsnotiz zurückkomme, verstärkt durch mein Verantwortlichkeitsgefühl (als Projektleiterin) für die ethische Dimensionen der Feldarbeit: War es Calise gegenüber fair, dass die Beobachterin hineingeht und eine Stunde lang auf das Baby aufpassen sollte, während Calise versuchte, weiterhin das zu tun, was sie sonst auch getan hätte?13 War die Rolle der Forscherin tragfähig und ethisch vertretbar? Welche Bedeutung ziehen die Forschungsteilnehmer:innen und andere Personen daraus und wie wirkt sich ihr Verständnis dessen darauf aus, was die Forscherin beobachtet? Zur Forschungsnotiz zurückkehrend habe ich mich gefragt, warum das Gefühl des Eindringens (das der Beobachterin und meines) besonders gegenüber Calises Bruder auftritt und nicht schon früher. Ich finde dort relevante Hinweise über die Ankunft der Beobachterin, wie folgt.«
Im ersten Teil ihrer Notiz zu dieser Beobachtungssitzung hält die Beobachterin fest, dass sie Anthony zunächst an der Tür begegnet, »ein junger Mann, den ich noch nie gesehen habe«. Als Calise einen Moment später zur Tür kommt, setzt sich die Notiz folgendermaßen fort:
»Ich sage: ›Du siehts nicht so aus, als ob du mich erwartest‹ und Calise schüttelt den Kopf. Ich überlege, ob ich fragen soll, ob es in Ordnung ist, tue es aber nicht. Ich nehme meine Tasche, gehe hinein und folge Calise und dem jungen Mann durch den Flur. Calise scheint es nicht zu stören. Als ich das Zimmer betrete, läuft auf dem Fernseher Wimbledon. Ich sage: ›Oh, Wimbledon‹. Der junge Mann sagt: ›Ja, wollen Sie es sich ansehen?‹. Ich danke ihm und sage, dass ich hier bin, um das Baby zu sehen. Er wechselt die Kanäle und schaltet einen MTV-Sender ein, der eine Mischung aus Reggae und Hip-Hop spielt.«
Im Gefühl der Beobachterin liegt bereits bei der Ankunft eine Ahnung, sie könnte sich aufdrängen, eindringlich sein, aber das wird durch ein anderes Gefühl abgemildert; dass Calise nichts dagegen hat, dass sie hereinkommt. Vermutlich erinnert sich Calise jetzt an ihre Vereinbarung (die Teil der umfassenderen Verpflichtung ist), dass die Beobachterin sie wöchentlich besucht. Dies ist der vierte Besuch der Beobachterin und Calise muss sich mit den Konventionen vertraut machen, nämlich dass sie weiterhin das tut, was sie ohnehin tun würde. Es scheint, als reagiere Anthony, selbst ein Gast, auf den Hinweis von Calise und als versuche er, der Beobachterin das Gefühl zu geben, willkommen zu sein. Auf diese Weise hält die Kultur der Beobachtungsforschung Einzug in den Raum. Die Anwesenheit des Bruders außerhalb des Wohnzimmers fühlt sich weniger einladend an. Mit den folgenden Worten versucht die Beobachterin, ihrem Gefühl in der Notiz Ausdruck zu verleihen: »Mein Gefühl in Bezug auf ihn (den jüngeren Bruder) ist, dass ich ein Eindringling bin; eine ältere Frau und Weiß; als ob er denkt: Was macht die denn hier?«. Auf diese Weise gibt sie ihrer Erfahrung bereits einen Sinn, indem sie sie in den Kontext von ethnischen und generationalen Unterschieden rückt. Diese imaginierte Frage scheint sich jedoch zusätzlich aus der Ambiguität der Beobachterinnenrolle und deren Potenzial zu ergeben, mit Überwachung verwechselt zu werden – der Art von Überwachung, die oft mit der Figur des Sozialarbeiters oder der Sozialarbeiterin assoziiert wird, dem Träger gesellschaftlicher Ängste und staatlicher Regulierung in Verbindung mit jugendlichen Müttern und deren Erziehungsfähigkeiten. Während Calise eine klare Grenze zwischen ausgehandelter Beobachtung und Überwachung gezogen haben dürfte (wir haben Hintergrundwissen, dass sie die Rolle der Beobachterin verstand und dass sie eine gute Beziehung zu ihrer Sozialarbeiterin hatte), mag diese Unterscheidung für Anthony und ihren Bruder weniger offensichtlich gewesen sein.
Im weiteren Verlauf des Besuchs bleibt die Beobachterin allein im Wohnzimmer zurück, während Calise, gefolgt von Anthony, das Baby zum Windelwechseln in ihr Schlafzimmer bringt, wo sich bald der gerade heimgekehrte Vater des Babys zu ihr gesellt, nachdem er die Beobachterin begrüßt hat. Die Beobachterin kommentiert: »Ich bleibe im Wohnzimmer, weil ich das Gefühl habe, dass es zu viel wäre, ins Schlafzimmer zu gehen«: Das Gefühl des Eindringens ist ziemlich penetrant.
Diese neue Provokation, die das Thema des Eindringens noch verstärkt, besteht auf der Frage: Was ist das Wesen der Unangemessenheit der Anwesenheit der Beobachterin in dieser Szene, die von allen Beteiligten (außer vielleicht vom Baby) in irgendeiner Weise erlebt wird? Das Gefühl der Beobachterin, es wäre zu viel, Calise ins Schlafzimmer zu folgen (was sie bei anderen Gelegenheiten ohne Zögern oder Schwierigkeiten tut), hat ebenfalls die Qualität einer Provokation. Wir waren beide erleichtert, dass sie trotz ihrer Erfahrung in der Rolle und trotz ihrer Anweisungen (beobachte, wo auch immer das Baby sich befindet) im Wohnzimmer blieb. Falls die Szenen im Wohnzimmer schon etwas von Calises leichter Intimität mit Anthony vermittelten, dann würde die Privatheit des Schlafzimmers dies vermutlich noch mehr tun. Das Schlafzimmer ist bekanntlich der Ort, an dem sich junge Menschen einen von der elterlichen Generation separierten Raum schaffen. Ihr gemeinsamer Rückzug dorthin unterstreicht den Generationenunterschied zwischen ihnen und der Beobachterin.
Das durch den Datenauszug hervorgerufene Gefühl des Eindringens scheint über die tatsächlichen Reaktionen der Anwesenden hinauszugehen. In der Forschungsanalyse müssen wir daher nicht nur das Potenzial einer imaginativen Vermischung der Rollen von Sozialarbeiter:innen und Beobachter:innen sowie den Unmut über die »Einmischung« – interference – von Sozialarbeiter:innen in Familien erklären, sondern auch die Heftigkeit des Gefühls des Eindringens und das Potenzial der Verwechslung von Beobachten und Spionieren. Das ist möglich, weil die Szene, die diese Fantasien veranlasst, irgendwo zwischen unseren Vorstellungen und der sozialen Wirklichkeit liegt, im Zwischenbereich der Erfahrung, in dem die Realität, wie wir sie vorfinden, mit persönlicher Bedeutsamkeit versehen ist. An diesem Punkt in der Analyse kam es für Lynn zu einem weiteren unerwünschten Eindringen, durch die Assoziation mit einer unangenehmen Erinnerung, die aus Lynns professioneller Erfahrung auftauchte und die auf ihre viele Jahre zurückliegende Tätigkeit als Sozialarbeiterin in einem Kinderschutzteam zurückging.
Lynn schreibt:
»Die Schlafzimmerszene hat mich gestört [bothered] und obwohl ich anfangs dachte, das läge daran, dass ich das Gefühl der Beobachterin übernommen hatte, es wäre »zu viel«, mit zwei Teenagern einen so intimen Raum zu betreten, erklärte dies nicht wirklich, weshalb ich mich so unwohl fühlte. Eine Szene formierte sich in meinem eigenen Kopf [mind], die Szene eines Sozialarbeitsbesuchs, den ich widerwillig in der Wohnung einer Sechszehnjährigen mit einem einen Monat alten Baby machen musste. Die Wohnung war voller junger (Weißer) Menschen, die ich damals als feindselig erlebte und die sich ins Schlafzimmer zurückzogen, was mich mit dem Gefühl zurückließ, sie würden über mich lachen und irgendeine Form der Demütigen planen. Ich fühlte mich lächerlich gemacht und misstrauisch, dort in dem schmutzigen Wohnzimmer mit dem Mädchen, dem Baby und einem Bullterrier, positioniert als unwiderruflich fremd und bedroht von einer Andeutung von Gewalt, die irgendwo zwischen meiner Vorstellung und der Situation schwebte, in der ich mich befand.«
Diese ungewollte szenische Erinnerung tauchte bei den ersten Malen, die Lynn den Text las, nicht auf. Stattdessen erzeugte das Unbehagen der Beobachterin ein unbestimmtes Gefühl des Schreckens. Die Erklärungen, die sie für das Gefühl des Eindringens fand, ermöglichten es ihr zunächst, das Zurückhalten der Beobachterin als eine etwas unangemessene »Sexualisierung« des Ereignisses abzutun, die wahrscheinlich auf einem kulturellen oder generationsbedingten Missverständnis beruhte. Erst im Gespräch mit Wendy wunderte sie sich weiter über das Eindringen und durch diesen Diskussionsprozess konfigurierte sich die andere Szene in ihrem Kopf.14
Lorenzers (1986, S. 51ff.) Charakterisierung zufolge enthalten unbewusste Dimensionen einer Szene eine »Konfiguration von Gedächtnisspuren« – Interaktionsformen, die »Lebenserfahrungen« fassen und »Praxis-Figuren« (Handlungskonfigurationen) bilden. Diese Figuren sind eingebettet in ein kulturelles (und daher kollektiv gehaltenes [collectively held]) Unbewusstes,15 das von der Kindheit an erlebt und durch konkrete Beziehungsmuster mit bedeutsamen Anderen und dem erweiterten Umfeld aufgebaut wurde (Leithäuser, 2012). Die interessierenden Praxisfiguren entstammen den gesellschaftlichen Erwartungen und Ängsten die Bereitschaft zur Mutterschaft betreffend und dem Konfliktpotenzial zwischen den Wünschen junger Mütter und den gesellschaftlichen Konventionen. In Lynns Szene nehmen diese Praxisfiguren die Form eines situationsspezifischen Antagonismus an, der zwischen den jungen Leuten und der Sozialarbeiterin ausgetragen wird. Wenn noch-nicht-bewusstes Material aktiviert wird – in diesem Fall, weil Lynn wider Willen dazu angetrieben wird, das Gefühl des Eindringens mit einer anderen Szene von persönlicher Bedeutung zu assoziieren, liegt das daran, dass die Figuren eine »fordernde oder sehnsuchtsvolle Qualität haben, die sie ins Bewusstsein drängt« (Lorenzer, 1986, S. 29).
Es lohnt sich, zu fragen, welche Bedingungen das Forschungssetting bot, sodass ihnen der Übergang ins Bewusstsein gestattet war, indem eine Erinnerung wachgerufen wurde, die etwa 15 Jahre lang geschlummert hatte; und warum es bei der Datenanalyse von Interesse sein sollte. Zur Zeit des eigentlichen Ereignisses erinnert sich Lynn an ein personell unterbesetztes Team, das in einem Klima des öffentlichen Misstrauens gegenüber der Aufdringlichkeit von Sozialarbeiter:innen einerseits und der moralischen Panik vor unangemessenen jugendlichen Müttern, rücksichtslosen Jugendlichen aus der Arbeiterklasse und gefährlichen Hunden andererseits arbeitete. In dieser Atmosphäre und in Verbindung mit einer unzureichenden arbeitsbasierten Supervision war es sehr schwierig, etwas anderes zu tun, als eine Risikoeinschätzung der Situation vorzunehmen und sicherzustellen, dass defensive und vermeidende Maßnahmen ergriffen wurden (indem sie die Besuche fortan zu zweit durchführte). Das datenanalytische Setting hingegen bot eine Möglichkeit, die Ereignisse zu reflektieren. Es erlaubte auch die reflexive Ausrichtung der Methode der Säuglingsbeobachtung. Material, das infolge des ursprünglichen Ereignisses kognitiv registriert und verarbeitet wurde, konnte nun emotional verarbeitet werden.
In post-kleinianischer bzw. objekttheoretischer Tradition stellte Wilfred Bion (1962), dessen Theorie des Denkens zu unserer theoretischen Ausstattung gehört (wenngleich sie in diesem Artikel nicht im Vordergrund steht), seine Konzeptualisierung von Symbolisierungsprozessen ins Zentrum seiner Psychoanalyse (Ogden, 2009). Seine einprägsame Formulierung »Gedanken ohne Denker« bezieht sich auf rohe, noch-nicht-symbolisierte (emotionale) Erfahrungen und verweist auf den kollektiven Charakter dieser Erfahrungen. Sein eher technischer Begriff der »Alpha-Funktion« konzeptualisiert die Bedingungen unter denen spezifische Roherfahrungen (Beta-Elemente) denkbar werden können (in Lynns Beispiel nicht die Bedingungen des Sozialdienstes, sondern die der späteren gemeinsamen Arbeit am vorliegenden Artikel). Diese Prozesse sind intersubjektiv und affektiv, wie Bion in seinem Konzept des Containments in der frühen Baby-Mutter-Beziehung ausführt. Mütter nehmen die unverarbeiteten emotionalen Erfahrungen ihrer jungen Babys durch das auf, was Bion (1962, siehe Ogden, 2009) als normale (oder »kommunikative«) projektive Identifikation ansieht; sie können – hoffentlich – darüber nachdenken und die Erfahrungen in verdauter Form durch ihre Handlungen an das Baby zurückgeben. Durch solche Erlebnisse internalisieren Kleinkinder ihre eigene Containing-Funktion, die für das Denken entscheidend ist.
Dieser Aspekt der britischen Psychoanalyse versetzt uns in die Lage, einen gegebenen Symbolisierungsaspekt, seine Bedingungen, Prozesse und die aufdämmernde Bedeutung zu analysieren. Er betont von der Qualität der emotionalen Erfahrung beeinflusste fortschreitende Prozesse des Denkens und Nichtdenkens anstelle des Unbewussten als Ort des verdrängten Materials. Durch die Qualität des Settings, die dazu verhilft, diese Bedrohung zu containen, wird es der Erfahrung ermöglicht, zur Symbolisierung zu gelangen. Oberflächlich betrachtet mag dies Lorenzers Darstellung des Übergangs von Interaktionen zu symbolischen Interaktionsformen zwar ähneln; in der britischen Tradition ist allerdings etwas enthalten, das wir in Lorenzers Werk (das uns nur begrenzt zugänglich ist) nicht finden können, nämlich eine Betonung der (situativen und entwicklungsbezogenen) Bedingungen unter denen Denken stattfinden kann. Ogden fasste es in einer Darstellung von Bions Theorie des Denkens so zusammen: »Es erfordert zwei Köpfe, um die beunruhigendsten Gedanken einer Person zu denken« (Ogden, 2009, S. 91). Das Terrain, das mit dem Begriff des »Unbewussten« bezeichnet wird, hat sich hier vom Freud’schen verdrängten Unbewussten auf lebenslange und wiederkehrende konflikthafte Prozesse verlagert, die für Bion zwischen dem rohen emotionalen Erleben und dem Denken ablaufen. Die potenzielle Bedeutung der emotionalen Erfahrung liegt natürlich in ihrer Beziehung zur Realität, sowohl zu materiellen als auch zur soziokulturellen, und sie wird daher eine kollektive Dimension haben. Dies war jedoch Bions Fokus und nur am Rande derjenige Winnicotts: Bion, Lorenzer und Winnicott überwinden zwar die Subjekt-/Objekt-Binarität, aber sie beschäftigen sich nicht mit denselben Fragen.
In unserem Beispiel lässt sich die weitere Ebene der Angst, die Lynn mit dem Datenauszug assoziiert, am besten auf eine gesellschaftlich-kollektive Projektion zurückführen – eine Ängstlichkeit, die damals wie heute eine kulturelle Furcht vor der Gefährlichkeit der jungen arbeitslosen »Unterklasse« widerspiegelt. Diese gelangt in politischen Diskursen an die Oberfläche, in denen alleinerziehende Mütter und schlechte Erziehung mit Gewalt und Kriminalität in Verbindung gebracht werden. Im Material selbst deuten alle Anzeichen auf die Unangemessenheit solcher Ängste hinsichtlich dieser Jugendlichen hin. Und tatsächlich werden sie erst angedeutet, als Anthony sie durch seine Inszenierung symbolisiert. Nichtsdestotrotz erzeugt ein Sog unleugbarer, gesellschaftlich erzeugter Angst ein Gefühl des Unbehagens. In diesem Sinne »drängt« das kollektive Unbewusste in die Szene.
Unsere Vorstellungen verlassen den Schlafzimmer-Teil der Beobachtung mit dem ungelösten Bild der unbeholfen im Wohnzimmer sitzenden Beobachterin. Bald tauchten die drei jungen Leute auf; der Vater des Babys ging los, um Essen abzuholen, und Calise, Anthony und das Baby gesellten sich wieder zur Beobachterin. Das Thema der Sommerjobsuche wurde fortgesetzt. Wir greifen das Thema der gesellschaftlichen, kollektiven, unbewussten Ängste und Fantasien auf, die auf die Szene einwirken. Hierzu folgen wir den Provokationen von Anthonys Inszenierungen und versuchen, mittels Szenischen Verstehens in Worte zu fassen, was sie so beunruhigend macht.
Wir beginnen damit, den zweiten Teil unserer früheren Szenischen Komposition zu wiederholen, um ihn uns wieder ins Gedächtnis zu rufen:
»Calise setzt das Baby in seinen Kinderstuhl und sie und Anthony besprechen Gesprächstechniken, um sich telefonisch nach einem Arbeitsplatz zu erkundigen. Anthony spielt das Gespräch mit einem potenziellen Arbeitgeber nach: ›Ja, em, guten Tag. Mein Name ist David Harding und ich frage mich, ob Sie freie Stellen haben. Oh, Sie wollen Leute mit sehr guten Noten, mehr als ein GCSE, besser als eine D-Note? Ja, also ich denke, das kann ich erfüllen, ich habe acht. (Pause) Ja, wir sind zwanzig und wir sind alle ›Hoodies‹, ist das okay?‹ Anthony fordert dann Calises Bruder auf, er solle ›diese schwarze Musik runterdrehen, ey [yar]. Wie kannst du das Zeug nur so laut laufen lassen? Mach das leiser!‹«
Es wirkt auf uns als holten die Provokationen einander ein: Anthonys Gespräch mit dem Arbeitgeber, bei dem er einen vermeintlich Weißen Namen und einen Mittelschichtsakzent benutzt, gefolgt von der schockierenden Verwandlung des netten David Harding in eine Bande von »Hoodies«; sodann die Aufforderung, »die Schwarze Musik runterzudrehen«. Wendy schreibt:
»Meine Verwirrung über die Stimme, in der Anthony mit dem Arbeitgeber am anderen Ende der Leitung sprach, und die ich und – da bin ich mir sicher – auch Anthony als Weiß vorstellte, wurde schnell von Überraschung und Ehrfurcht abgelöst, als zwanzig »Hoodies« dem Arbeitgeber vorgestellt wurden. Ich war beeindruckt von dieser kämpferischen Herausforderung an den Weißen Status quo, bei der das Gefühl aufkam, dass potenzielle Aggression durch Verspieltheit ausgeglichen wurde.«
Anthony beginnt damit, dass er stolz seine acht GSCEs mit dem »sehr hohen Standard« eines GSCE kontrastiert, besser als eine D-Note17, und es bleibt rätselhaft, ob er sich sarkastisch an den imaginierten Arbeitgeber richtet (dessen Standards weit unter seinen eigenen Leistungen liegen) oder ob er impliziert, dass der Arbeitgeber nicht ernsthaft an akademischen Qualifikationen, sondern nur an netten, Weißen Jungs interessiert ist.18 Hinter der Interaktion, aber dennoch die Szene durchdringend, liegt die soziale Historie des Vereinigten Königreichs, eine Geschichte der Beschäftigung Schwarzer Menschen in schlecht bezahlten, unqualifizierten Jobs (telefonische Verkaufsgespräche sind hierfür ein aktuelles Beispiel) und auch des unterdurchschnittlichen Schulerfolgs Schwarzer männlicher Schüler (Sewell, 1997), denen Anthony seinen eigenen Erfolg gegenüberstellt. Als ein Ganzes betrachtet, kollidierten möglicherweise rassistische und klassistische Arbeitsmarktdiskriminierung mit Anthonys Freude über seinen Erfolg, eine Unterströmung, die in die Sprache drängt und die Vorstellung bedroht, dass seine Prüfungsergebnisse ausreichen würden, um ihm einen interessanten Sommerjob zu verschaffen.
Als Nächstes verwandelt sich Anthony, der Arbeitssuchende, in eine Bande von »Hoodies« und bringt damit eine mit sozialen Ängsten beladene Praxisfigur in den dramaturgischen Raum. Nichts an Anthonys Auftreten passt zum Bild der »Hoodies«, und doch beschwört er damit das Schreckgespenst delinquenter Jugendlicher aus der Arbeiterklasse herauf – umso alarmierender aufgrund ihres »Schwarzseins«, die mit Messern, wenn nicht gar mit Schusswaffen ausgerüstet Raubüberfälle begehen fernab der Kontrolle von Recht und Ordnung.19 Dies wäre kein bewusster Bestandteil der Erfahrung eines Weißen liberalen Besuchers; dennoch ist Lorenzer zufolge, eine solche Praxisfigur im kollektiven Unbewussten enthalten. Was treibt Anthony an, diese Figur in seiner Perfomance aufzugreifen und herauszufordern? Lorenzer weist darauf hin, dass wir »Dinge ausprobieren« und »unsere Gefühle und Wahrnehmungen an der Realität prüfen« können, »weil symbolische Interaktionsformen es uns erlauben, szenische Erfahrungen unabhängig von den konkreten sozialen Praktiken, denen sie entstammen, zu vergegenwärtigen« (Lorenzer, 1986, S. 53).
Das kollektive Unbewusste im Sinne Lorenzers mag zwar von transkulturellen Prozessen ausgehen (wie etwa die Neigung, die zu »den Anderen« zu machen, die anders sind), es enthält aber auch historisch und kulturell spezifische soziale Inhalte. Die dominante Figur der Gang aus »Hoodies« wird in einem englischen Kontext produziert und verweist auf eine Unterschicht aus der Perspektive der Wohlhabenden und Mächtigeren. Es handelt sich um eine kulturell vertraute Figur, die hier von Anthony eingebracht wird. Im Gegensatz zur Schlafzimmerszene, in der ein unbestimmtes Gefühl des Unbehagens verbliebt und die (für Lynn) mit anderen Szenen zuvor erlebter Gefährlichkeit verschwimmt, bringt die Inszenierung Anthonys etwas bislang Verkanntes voll zur Geltung. Obwohl Anthony ein Skript erfindet, ist es die Performance als ein symbolisches Ganzes, das diesen Effekt erzielt. Durch die präsentative Symbolik des Dramas scheint Anthony der Beobachterin etwas zu zeigen, das diskursiv nur schwer zu vermitteln gewesen wäre. Die von Susanne Langer (1990 [1942]) herausgearbeitete Unterscheidung zwischen präsentativen und diskursiven Symbolen hat Lorenzers Denken entscheidend beeinflusst: präsentative Symbole bringen Gefühls- und Sinnesdaten zusammen und konstituieren einen eigenen Bereich des Denkens (der in der Musik sowie in darstellenden und bildenden Künsten Ausdruck findet). Sie vermitteln zwischen abstrakten, sprachbasierten Konzepten und der materiellen Welt. Sie liegen auch der gewöhnlichen assoziativen mentalen Aktivität zugrunde und bilden die Basis des verkörperten, erfahrungsbasierten Denkens.
Anthonys Mini-Drama präsentiert uns eine potenzielle Bedrohung in einer kulturellen Form, in der auch ein Weißes Publikum den Unterschied zwischen den von unbewussten Weißen kulturellen Ängsten geprägten Fantasien und der im Wohnzimmer angetroffenen Realität testen bzw. durchspielen – und damit erfahren – kann. Die präsentative Symbolisierung entgiftet die Bedrohung, der gekonnte Einsatz von Satire entschärft die Ängste zusätzlich. Anthony identifiziert die Problematik, macht sie explizit und gießt sie in ein wiedererkennbares kulturelles Genre. Dadurch wird die Angst »contained«, die Verweise auf Rasse und Gewalt andernfalls hervorrufen könnten. Anthony reproduziert nicht nur die szenische »Hoody«-Figur, sondern verwandelt die an sie geknüpfte Erfahrung des Publikums in eine neue soziale Realität. Der Kontrast zur ungelösten Angst, die die Schlafzimmerszene auslöst, ist greifbar. Dort wurde ein Gefühl der Bedrohung ohne klare Begründung verstärkt, anstatt die Realität zu begreifen – apprehend – und sie kreativ mit Bedeutung zu versehen.
Während Nicht-Wissen normalerweise Angst auslösen dürfte, ermöglicht die neutrale Qualität der Anwesenheit der Beobachterin (sie initiiert oder lenkt die sich entfaltende Interaktion nicht) die Aufrechterhaltung der Ambiguität und die Entwicklung einer Kapazität für kreative Illusion. Ohne Illusion – die Fähigkeit, etwas so zu begreifen, »als ob« es anders sein könnte – kann es keine Symbolisierung geben. Dies führte uns zur Frage, was es Anthony ermöglichte, seine eigene Kapazität zur Illusion und die seines Publikums zu mobilisieren, zunächst im Wohnzimmer und dann im datenanalytischen Setting. Es scheint wahrscheinlich, dass dies durch die containende Funktion der Beobachterin selbst möglich wurde. Obwohl wir in diesem Fall keine direkten Belege dafür in den Notizen der Beobachterin finden können, haben andere empirische Studien (z. B. Urwin et al., im Druck) auf die Tatsache verwiesen, dass eine versierte Säuglingsbeobachterin ihre potenzielle Eindringlichkeit im Laufe der Zeit abschwächt und zu einer verlässlichen, nicht-wertenden und containenden Präsenz werden lässt, während sie den Säugling und die Familie mentalisiert – holds … in mind.
Sollte es noch Zweifel gegeben haben, dass die ethnische Differenz Teil der Szene ist, so werden diese mit Anthonys nächstem Zug zerschlagen, als er wiederholt die Forderung stellt, »die Schwarze Musik leiser zu stellen«. Damit ist nicht die von Anthony ausgesuchte Schwarze Musik gemeint, die in niedriger Lautstärke auf dem MTV-Kanal läuft, sondern die von Calises Bruder, dem anderen in der Szene anwesenden jungen Schwarzen Mann. Mittels dieser doppelten Verschiebung (nicht er selbst, nicht seine Musik) bringt Anthony die Vorstellung des Schwarzen zum ersten Mal zur Sprache. Gleichzeitig wird ein Altersunterschied in Spiel gebracht: Es sind die Jungen, deren Musik für ältere Menschen zu laut ist. Nichtsdestotrotz bringt die Bezeichnung der Musik als Schwarz die Weiße Beobachterin und das Weißsein in die Szene, denn die Musik würde dieses Label nicht auf sich ziehen, wenn die drei jungen Schwarzen Personen ohne die Gegenwart der Beobachterin in der Wohnung wären. In einem Zwischenbereich der Erfahrung – Lorenzers »Szene« – kann Anthony mit diesem Bild von Schwarzen Jugendlichen spielen und es aus seiner Position der Andersartigkeit – seiner Andersartigkeit gegenüber lauter Schwarzer Musik und gegenüber einem Hoody-Gang-Mitglied – heraus infrage stellen. Und kraft seines Handelns können wir das auch.
Beide Methoden, die wir hier in den Dialog bringen, verwenden das Konzept der Symbolisierung und beziehen sich dabei in gewisser Weise auf den Unterschied zwischen bewusster und unbewusster Erfahrung. Lorenzer bezeichnet dieses nicht-symbolisierte gesellschaftliche Wissen als kollektives Unbewusstes: »Das Unbewusste in der Literatur ist, wie ich es sehen würde, ein kollektives Unbewusstes, wenn auch zugegebenermaßen nicht im Jung’schen Sinne« (1986, S. 28).20 Es scheint uns, dass in der psychosozialen Forschung (im Gegensatz zur klinischen Praxis) individuelle und kollektive unbewusste Prozesse dann ersichtlich werden, wenn die Bedingungen es ermöglichen, dass nicht-symbolisiertes Material symbolisiert wird. Wenn der Inhalt des nicht-gedachten Bekannten zu einem gegebenen Zeitpunkt symbolisiert werden soll, muss die Angst, die es auslöst, abgemildert werden. Dies hängt sowohl von der containment-Kapazität der denkenden Person ab, als auch von den gesellschaftlichen Containern für Denkende und Gedanken. Der Prozess der Symbolisierung von Erfahrungen wird von dem angetrieben, was Lorenzer als die sehnsuchtsvolle Qualität des nicht anerkannten und zumindest teilweise unbewussten Materials beschreibt, das ins Bewusstsein drängt. Bions Idee des Containments hilft uns, die affektiven und intersubjektiven Bedingungen zu verstehen, unter denen zuvor nicht-symbolisiertes Material zugänglich werden kann, wenn der Provokation nachgegangen wird.
Die Überschneidung der Vorstellung des Zwischenbereichs und der des Dazwischens in den beiden Traditionen ist partiell. Zwar gibt es Unterschiede in der verwendeten Sprache (was nicht überrascht) und bezogen auf seine Entwicklung. Die Übereinstimmungen hinsichtlich der Anerkennung der Bedeutsamkeit des Zwischenbereichs innerhalb des Symbolisierungsprozesses sind jedoch beträchtlich. Lorenzer, Winnicott und Bion helfen uns, die Subjekt-/Objekt-Binarität zu überwinden, aber sie erreichen dies auf unterschiedlichen Wegen. Sowohl bei Lorenzer als auch bei Winnicott besteht ein explizites Interesse am Verhältnis zur kulturellen Erfahrung. Lorenzer ergänzt Winnicott um eine elaboriertere Darstellung des Verhältnisses zwischen Sozialisation und der Internalisierung sowie idiosynkratischen Ausarbeitung von Formen, die auf kollektive kulturelle Erfahrung zurückgehen.
Die Problematik nicht-symbolisierten Materials war zentraler Gegenstand unserer Datenanalyse innerhalb des vorliegenden Artikels. Im Falle der Schlafzimmerszene konnte zum Zeitpunkt des beobachteten Ereignisses keine erfolgreiche Symbolisierung erreicht werden, wodurch die Beobachterin (und später wir selbst als forschende Analytikerinnen) mit einem vagen Gefühl des Eindringens zurückblieb. Dieses Gefühl haben wir bezüglich Fantasie und Realität der Rollen von Beobachter:innen und Sozialarbeiter:innen, vermischt mit gesellschaftlichen Sorgen hinsichtlich Teenager-Elternschaft, diskutiert. Im Falle von Anthonys Inszenierung wurden unausgesprochene Themen wie Verschiedenheit, Diskriminierung und fehlende Anerkennung performativ zu präsentativer Symbolisierung gebracht, was uns mit einem Gefühl der Erleichterung und Freude darüber hinterließ, dass etwas identifiziert und benannt und die Ängste folglich zerschlagen worden waren.
Lynns auftauchende Erinnerung ist aus drei Gründen mehr als nur von lebensgeschichtlichem Interesse: Erstens ermöglicht sie es, assoziatives Denken in dem von der Forschungsanalyse geschaffenen Übergangsraum kreativ zu nutzen (diese Idee wurde in Beziehung zu Anthonys Inszenierung erweitert); zweitens rückt sie die dynamischen und dialektischen Beziehungen zwischen persönlicher, lebensgeschichtlicher Erfahrung und dem gesellschaftlichen kollektiven Unbewussten in den Vordergrund, die in Interaktionsformen und Praxisfiguren eingebettet sind. Drittens veranschaulicht sie einen wichtigen methodischen Aspekt bzgl. der Zulässigkeit oder Nicht-Zulässigkeit der Verwendung von nicht-intellektuellem Wissen als Beitrag zu forschendem Verstehen: Diese Arten von Erinnerungsspuren bevölkern die gegenwärtige Erfahrung mit nicht-symbolisierter Bedeutung und es ist wichtig, die Spuren ins Bewusstsein zu bringen, damit ihre Bedeutung mit relativer »Objektivität« erfasst werden kann.
Wir arbeiten mit der Vorstellung der unbewussten Prozesse, um das zu bezeichnen, was der Symbolisierung üblicherweise nicht zugänglich ist. Dies kann als ein Kontinuum des nicht-gedachten Wissens verstanden werden, das vom Ungesagten bis zum Unsagbaren reicht. Für die psychosoziale Forschung stellt sich die Frage, wie ein Bereich des nicht-gedachten Wissens erschlossen werden kann, der den Methoden der qualitativen Sozialforschung üblicherweise nicht zugänglich ist. Auch wenn Lorenzers Vorstellung des Szenischen Verstehens und Winnicotts Begriff der Übergangsphänomene die Binaritäten zwischen Subjektivität/Objektivität und innerer/äußerer Erfahrung auf unterschiedliche Weise überschreiten, sind ihre Konzeptualisierungen eines Dazwischen für uns Forschende gleichermaßen nützlich. Sie hilft uns, Aspekte der Erfahrung ins Bewusstsein zu bringen, die der Aufmerksamkeit sozialwissenschaftlicher Forschung normalerweise entgehen. Methodologisch betrachtet nutzt die Provokation die Emotion, die von der Szene ausgeht, um den Forschungsanalytiker:innen Zugang zu diesem Zwischenraum zu verschaffen.
In den gegenwärtigen Beispielen tauchen wichtige Formen der Differenz – ethnisch, generational und klassenbasiert – in der Datenanalyse auf und zeigen, wie gesellschaftliche Problematiken von weitreichender historischer Bedeutsamkeit in kleinformatigen interpersonalen Gruppenprozessen manifest sind: in einer häuslichen Szene, in der zwei Freunde interagieren und eine Beobachterin dasitzt und das Baby beobachtet, werden in Form von Problematiken rassistischer Benachteiligung auf dem Arbeitsmarkt und der Regulierung von Teenager-Elternschaften in einem afrikanisch-karibischen Haushalt in London gesellschaftliche Fragen von Ungleichheit und Machtverhältnissen in der zeitgenössischen englischen Kultur und darüber hinaus bis hin zur Kolonialgeschichte aufgeworfen. Für die Psychosozialforschung bedeutet dies, dass das Gesellschaftliche (Makrosoziale) und das Zwischenmenschliche (Mikrosoziale) konzeptionell nicht als zwei unterschiedliche Analyseobjekte behandelt werden sollten.
In diesem Artikel haben wir eine Debatte über die Bedeutung eines »gesellschaftlichen kollektiven Unbewussten« geführt. Im Zuge dessen wurde diskutiert, welche Prozesse involviert sein könnten und welchen Nutzen das Konzept möglicherweise im Rahmen psychosozialer Forschung mit sich bringt. Das ist ein kleiner Anfang, aber wir hoffen, dass weitere Schritte folgen.
Ins Deutsche übersetzt von Moritz Heß und Dr. Marian Kratz
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Summary: In this article, we draw on Lorenzer’s method in our analysis of a single case data extract derived from a research project enerating data through the Tavistock Infant Observation tradition. The partial case analysis onstrates our methodological approach and explores conceptual territory at the meeting point of German and British psychoanalytically-informed traditions. Our scenic composition synthesised key elements of one observation visit to the home of a young black first-time mother in London. Lorenzer’s advice to the cultural analyst to explore what irritates or provokes in the scene has something in common with the way that observers in the infant observation tradition use their emotional responses and process their experience. The aim is to provide access to what Winnicott described as an intermediate area of experience and Lorenzer considered »in-between«. We explore this area through two provocations in our scenic composition. Using these data examples we ask: is it possible to conceptualise collective, societal-cultural unconscious processes (Lorenzer’s gesellschaftlich-kollektives Unbewußtes, 1986) within this intermediate area? Specifically, how is racial and class difference present in the scene? How can it be located through scenic understanding of research data? And why does it matter?
Keywords: psychoanalysis, cultural analysis, psychosocietal, scene, scenic understanding, infant observation, symbolisation, societal-collective unconscious, transitional space
Wendy Hollway, Prof. emerit. für Psychologie an der Open University (UK), war an der Entwicklung der Psychosocial Studies und psychosozialer Forschungsmethoden beteiligt und ist Mitherausgeberin der Palgrave-Reihe Studies in the Psychosocial. Sie nutzt psychoanalytisch fundierte Methoden, um Ebenen unterhalb der Oberfläche zu erkunden, so zuletzt beim Einsatz Sozialen Träumens zur Beforschung der Rolle von Kunst für Klimawandelbewusstheit.
Lynn Froggett, Prof. emerit. für Geistes- und Sozialwissenschaften an der Open University (UK), hat einen interdisziplinären Hintergrund in den Sozial- und Humanwissenschaften und einen professionellen Hintergrund in der sozialen Arbeit. Ihre Arbeit hat sich durch ethnografische, biografisch-narrative, hermeneutische und visuelle Methodologien entwickelt.
Wendy Hollway
Abteilung für Psychologie
Open University Milton Keynes
MK7 6AA
Vereinigtes Königreich
E-Mail: w.hollway@open.ac.uk
Lynn Froggett
Psychosocial Research Unit
Schule für Sozialarbeit
University of Central Lancashire
Preston PR12HE
Vereinigtes Königreich
E-Mail: lfroggett@uclan.ac.uk