Interaktionsformen und Szenisches Verstehen

Theoretische Grundlagen und klinische Anwendung1

Frank Dammasch

Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik • Band 30 (2024), 21–47

https://doi.org/10.30820/0938-183X-2024-30-21 CC BY-NC-ND 4.0 https://jahrbuch-psychoanalytische-paedagogik.de

Zusammenfassung: Ausgehend von klinischen Erfahrungen am Sigmund-Freud-Institut und der gesellschaftskritischen »Frankfurter Schule« entwickelt Alfred Lorenzer im Laufe seines Wirkens ein umfangreiches Theorie- und Methodeninventar sowohl für eine sozialisationstheoretische Perspektive des kindlichen Bildungsprozesses als auch für die spezifische Methode des psychoanalytischen Verstehens unbewusster Beziehungsmuster. Als Theorie der Interaktionsformen und als Szenisches Verstehen sind beide Bausteine eingegangen in den Theoriefundus der Psychoanalyse. Schon die innere Natur – der Trieb – ist nicht Biologie alleine, sondern besteht aus sozial hergestellten Szenen. So ist für ihn das Subjekt von Anfang an ein Produkt seiner Beziehungserfahrungen, die anfangs über die Vermittlung durch die Mutter-Kind-Dyade auch sozial hergestellt werden. Mit dieser gesellschaftskritischen Fokussierung ist er vielleicht der radikalste Vertreter einer kritischen Psychoanalyse. Anlässlich seines 100. Geburtstages werden die sozialisationstheoretischen wie methodenspezifischen Gedanken Lorenzers dargestellt und Verbindungslinien zu anderen Theoretikern skizziert. Zur Veranschaulichung des Szenischen als methodischer Grundlage des psychoanalytischen Verstehens im Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung wird die Interpretation einer Therapie-Situation mit einer traumatisierten Adoleszentin aus einer neueren filmischen Darstellung (In Treatment) entfaltet.

Schlüsselwörter: Sozialisations- und Entwicklungstheorie, Psychoanalytisches Verstehen, Erkenntnistheorie

1Einleitung

»Wie kommt man mit Sprache in das Terrain der Sprachlosigkeit?« ist die Grundfrage, die sich jeder Psychoanalytiker und psychoanalytische Pädagoge seit Freuds Entdeckung des Unbewussten als Symptom mitproduzierende latente Sinnebene stellt. Dieses Rätsel brachte den Frankfurter Psychoanalytiker und Sozialwissenschaftler Alfred Lorenzer dazu, ausgehend von einer differenzierten Theorie der Persönlichkeitsentwicklung ein Konzept des Verstehens, der inneren Erlebniswelt des Subjekts zu entwickeln. Seine Schaffenskraft wurde leider schon Anfang 1990 mit 68 Jahren durch eine schwere Krankheit beendet. Er starb schließlich im Alter von 80 Jahren. Alfred Lorenzer hat ein umfassendes Werk hinterlassen, in dem er unter anderem eine erkenntnistheoretische Begründung der Psychoanalyse, eine kritische Theorie der Subjektentwicklung, zahlreiche Beiträge zur psychoanalytischen Methode und zur tiefenhermeneutischen Interpretationsmethode sowie Kulturanalysen hinterließ. Im Jahr 2022 würde Alfred Lorenzer seinen 100. Geburtstag feiern. Ein guter Grund, auch den bisher nicht mit seinen Werken Vertrauten einige seiner wichtigen Modelle nahe zu bringen. Im psychoanalytischen Diskurs wurde vor allem sein umfassendes Konzept des Szenischen Verstehens aufgenommen und sowohl in der Pädagogik wie in den Methoden der klinischen Diagnostik und Behandlung angewandt. Als gesellschaftskritischer Denker im Geiste der Frankfurter Schule beschäftigte er sich mit metatheoretischen Konzeptionen einer materialistischen Sozialisationstheorie. Später ging er dann den Weg von der klinischen Perspektive hin zu tiefenhermeneutischen2 Interpretationen kultureller Objektivationen. Diese kulturanalytische Wende machte seine Gedanken für die rein praxisorientierten Psychotherapeuten dann weniger attraktiv als für die an Sozialisationsprozessen interessierten Sozialwissenschaftler und Pädagogen. Lorenzer hat sich mit Bezug auf Freud immer dagegen ausgesprochen, den Gesamtfundus der Psychoanalyse einzugrenzen auf eine reine Behandlungsmethode. Insbesondere der Methodenvergleich von Lorenzers Tiefenhermeneutik und Ulrich Oevermanns Objektiver Hermeneutik waren in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren wichtige kontrovers diskutierte Themen in der qualitativen Sozialforschung der Frankfurter Soziologie. Eine Auseinandersetzung mit der Theorie und Methode der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Insbesondere für subjektanalytisch orientierte Sozialwissenschaftler empfehle ich Lorenzers ausführlichen einleitenden Aufsatz in Tiefenhermeneutische Kulturanalysen (1986) und die vielschichtige Darstellung seiner Theorien und der Methode der Tiefenhermeneutik in Alfred Lorenzer zur Einführung (H.D. König et al., 2020).

Ich selbst habe ihn zwei Jahre nach seiner Berufung 1974 zum Professor für Sozialpsychologie im Fachbereich Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt kennen und schätzen gelernt. Seine Seminare über sozio-psychoanalytische Verstehenskonzepte, über Analysen der Entwicklung des Antisemitismus gemeinsam mit Klaus Horn und die psychoanalytischen Interpretationen von Kulturphänomenen und Literatur waren sowohl faszinierend als auch in ihrer analytischen Vielschichtigkeit für einen jungen Studenten der Soziologie intellektuell herausfordernd bis überfordernd. Das Durcharbeiten seiner beiden Grundlagenwerke Sprachzerstörung und Rekonstruktion (1970) und Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis (1974) haben mir viel Zeit und ein hohes Maß an Fähigkeit abverlangt, sich auch durch schwierige und komplexe Texte, deren zahlreiche Bezüge mir unbekannt waren, durchzubeißen. Meine jugendliche Hoffnung, das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft wären anhand weniger allgemeingültiger wissenschaftlicher Grundlagentexte zu erfassen, zerschellte gleich im ersten Semester der Soziologie. Aber der kritische Grundgedanke, der Lorenzer antrieb: Das menschliche Wesen ist ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse (vgl. Marx, 1845, 6. These über Feuerbach) ließ mich nicht mehr los. In der damaligen Zeit war das soziologische Denken in der Nachfolge der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer, Marcuse, Fromm, Habermas, Mitscherlich u.a.) und der Studentenbewegung häufig auch gelebte rebellische Praxis an der Frankfurter Universität (Teach-Ins, Seminarbesetzungen, Startbahn West Demonstrationen, RAF-Diskussionen, Anti-AKW Bewegung). Da das Private immer auch politisch war, wurden die »einengenden kleinbürgerlichen« Beziehungsmuster infrage gestellt und durch kollektive Formen des Zusammenseins probeweise ersetzt. Die Verbindung von soziologischer Analyse der objektiven Verhältnisse und der Psychoanalyse der Subjektivität des Individuums galten unter den vielen gesellschaftspolitisch orientierten Studenten und Studentinnen als Krönung der Kritischen Theorie. Inhaltlich konkretisierten sich Lorenzers Konzepte für mich dann vor allem durch die Verbindung mit der Praxis im Pädagogik-Studium, in der Aloys Leber (1988) dessen psychoanalytische Konzeptualisierungen des Szenischen Verstehens in die pädagogische Praxis transformierte und zum Basisbaustein einer psychoanalytischen Pädagogik machte. Erst kürzlich widmete sich das Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik ausführlich den Einflüssen des Szenischen Verstehens auf die pädagogische Diagnostik (Katzenbach et al., 2018). Und auch dieser jetzige Band zeigt, wie sehr Lorenzers Theorie und Methode die Psychoanalytische Pädagogik geprägt hat.

2 Der Erkenntnisgegenstand

Gehen wir Schritt für Schritt vor und skizzieren – bevor wir uns der Methode des Szenischen Verstehens widmen – die Gedanken zur Entwicklung der inneren Welt: Die Psychoanalyse ist für Alfred Lorenzer mit Bezug auf Jürgen Habermas’ (1968) Kritik am »szientistischen Selbstmissverständnis« eine analytisch hermeneutisch operierende Wissenschaft zwischen den Wissenschaften. Deren Ort liegt zwischen der Biologie und Medizin mit deren Bindung an physiologischen Körperprozessen auf der einen Seite und der Soziologie und Psychologie und ihrem Verständnis des Zusammenwirkens von Individuum und Gesellschaft auf der anderen Seite. Als tiefenhermeneutische Erfahrungswissenschaft liegt ihr erkenntnistheoretischer Ort zwischen der Naturwissenschaft und der Geisteswissenschaft. Gerade diese Zwischenposition, die sie von der an Zählen und Messen orientierten quantitativen empirischen Forschung entfernt, begründet ihr einmaliges Potenzial als kritische Erfahrungswissenschaft des Subjekts, macht sie aber zugleich sperrig für ein positivistisches, an Standardisierungen orientiertes Wissenschaftsverständnis, das heutzutage den Ton angibt:

»Im Widerspruch gegen experimentell-nomologische Psychologie behauptet Psychoanalyse die Aufgabe einer hermeneutisch-interpretierenden Untersuchung des Erlebens. Im Widerspruch gegen Soziologie vertritt sie, gegen eine gesetzesbildende wie gegen eine hermeneutische Soziologie, Subjektivität nicht als Erscheinungsort objektiver Strukturen, sondern als Problem der inneren Lebenswelt und sieht Subjektivität als Verhältnis von Natur und Gesellschaft im Individuum« (Lorenzer, 1986, S. 15).

Durch ihre konsequente Orientierung an der Einzigartigkeit der individuellen Erlebniswelt des Subjekts entzieht die Psychoanalyse sich standardisierenden Verallgemeinerungen, wiewohl gleichzeitig das Subjekt in seinem vielschichtigen Sein auch Produkt objektiv erfassbarer gesellschaftlicher Zustände ist. Wenn wir uns damals als Studenten und Studentinnen zu sehr in die unbewussten Fantasien von Texten interpretativ vertiefen wollten, wurde Lorenzer ganz historischer Materialist und erinnerte an Karl Marx: »Vernachlässigt mir das Sein und das Bewusstsein nicht!« Dennoch ist für ihn als Psychoanalytiker die subjektive Innenwelt nie die reine Abbildung der äußeren Realität. Es geht um das komplexe Wechselspiel zwischen den äußeren gesellschaftlichen Verhältnissen und dem menschlichen Wesen, dessen Innenwelt bereits die Spannung zwischen Kultur und Natur, zwischen Zuschreibungen und Körperfiguren enthält. Die objektiv beschreibbare Erfahrung der Person mit der Außenwelt wird im Inneren zur biografisch gewachsenen einzigartig strukturierten Erlebniswelt – von Beginn des Lebens an. Lorenzer wurde nicht müde zu betonen, dass die Psychoanalyse eine subjektive Erlebnisanalyse ist und nicht als objektive Ereignisanalyse missverstanden werden darf. Es geht in einer Psychoanalyse also nicht um eine detektivisch aufzudeckende materielle Ereignisrealität, sondern um die gemeinsame Erfahrung mit der bewussten und unbewussten Erlebnisrealität des Subjekts, wie sie sich in der therapeutischen Interaktion sprachlich und szenisch zeigt und im psychosomatischen Innenraum des Therapeuten qua Übertragung und Gegenübertragung aktualisiert. Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis bezieht sich nicht auf ein naturgesetzliches Faktum, das ein für alle Mal entdeckt, erklärt und festgeschrieben werden kann, sondern entwickelt sich aus sprachlich und szenisch geformten Interpretationsgestalten, die in der Interaktion gefunden und letztlich durch das Evidenzerlebnis der beteiligten Subjekte gesichert wird.

3 Die Sozialisationstheorie

Woraus bestehen aber nun die inneren Erlebnisfiguren des Subjekts? In der Tradition der Freud’schen Triebtheorie, der Objektbeziehungstheorie und der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule konzeptualisiert Lorenzer nach der Kritik des psychoanalytischen Symbolbegriffs (1970) eine materialistische Sozialisationstheorie (1977) auch bekannt als Theorie der Interaktionsformen. Die Grundbausteine der Persönlichkeit bestehen aus drei über bzw. nebeneinander gelagerten Schichten von Regulationssystemen:

3.1 Die sinnlichen Interaktionsformen

Am Anfang steht die Interaktion. Die inneren Niederschläge der ersten Beziehungserfahrungen werden als Interaktionsformen die Basisbausteine der menschlichen Psyche. Von Beginn an werden die konkreten Beziehungserfahrungen des Säuglings im Wechselspiel mit der Mutter als unbewusste, sinnlich körperliche Erinnerungsspuren gespeichert. Sie bilden die Matrix der Bedürfnisstruktur und gehen als Erwartungshaltung des Säuglings in die weiteren Interaktionen mit der Mutter ein. Der körperliche Bedarf des Säuglings wird durch die einzigartige bedeutungszuschreibende Interaktion mit der Mutter in ein spezifisches Bedürfnis geformt. Dies entsteht aus den Erinnerungsspuren des Wechselspiels von Mutter und Kind schon auf somatischer Ebene zwischen Embryo und mütterlichem Organismus. Diese Erinnerungsspuren werden als Engramme hirnphysiologisch gespeichert.

»Das Erleben baut auf dem sinnlichen Wechselspiel des Interagierens auf, ist Resultat eines realen Interaktionsspiels, wobei die sinnliche Erfahrung der Interaktionssituation Schritt für Schritt das sensomotorisch-organismisch organisierte Substrat des Erlebens verändert. Daraus folgt, dass jede abgelaufene Interaktion in die Struktur der Interaktionsformen eingeht, die als Erwartungsmodelle künftigen Interagierens fungieren. Der embryonale und frühkindliche Bedarf wird auf dies Weise zum spezifischen Bedürfnis geformt« (Lorenzer, 1981, S. 86).

Diese spezifischen in der Mutter-Kind-Dyade geformten Bedürfnisse bilden als körperlich eingravierte Erinnerungsspuren die Grundlage der Triebstruktur. Das aus dem körperlichen Bedarf geformte spezifische Bedürfnis besteht aus Erlebnisfiguren, die Niederschläge real erlebter Beziehungsszenen sind.

»Die Art und Weise, wie ein Kind von der Mutter in den Arm genommen wird, bildet einen Erlebnisinhalt, eine gestische Figur, die dessen eigenes – aktives – Verhalten formt und als – passive – Erwartung festgehalten wird. Die Wiederholungen der Szene festigen die Form, der Ausfall der Wiederholung erzeugt Unlust, Angst, Gegenreaktionen, nämlich Aggression« (ebd., S. 88).

Daniel Stern hat später ein an der Säuglingsbeobachtung orientiertes ähnliches Konzept der generalisierten Episode bzw. der RIG (Representations of Interactions that have been generalised) vorgelegt und beschreibt den Zusammenhang praxisnah:

»Nehmen wir an, ein Säugling hat eine spezifische Episode einmal erlebt, eine Episode mit den folgenden Attributen: Hunger haben, an die Brust gelegt werden […], Suche, Öffnen des Mundes, zu saugen beginnen, Milch bekommen. Bezeichnen wir dieses Geschehen einmal als Brust-Milch-Episode. Wenn dann wieder eine ähnliche Brust-Milch-Episode eintritt und der Säugling erkennt, dass die meisten wichtigen Attribute der aktuellen Episode denen der vorangegangenen ähneln, haben sich zwei spezifische Brust-Milch Episoden ereignet. Zwei mögen genügen, doch wenn weitere Episoden mit erkennbaren Ähnlichkeiten und geringfügigen Unterschieden stattfinden, so wird der Säugling bald eine generalisierte Brust-Milch-Episode entwickeln. Diese generalisierte Erinnerung ist eine individuell gebildete, persönliche Erwartung im Hinblick darauf, wie sich die Dinge – von einem Augenblick zum anderen – vermutlich entwickeln werden« (1992, S. 140).

Die gebildete Interaktionsform geht als Erwartungshaltung in die nächste Interaktion ein und fordert die Wiederholung. Der Drang zur Wiederholung von Interaktionserfahrungen ist dem Menschen inhärent, denn er ist abhängig vom befriedigenden Austausch mit der Umwelt.

»Die pure Lebensnot ist die Quelle des Triebes zu Austausch und Wechselspiel; der erste grundlegende Inhalt des Triebes ist daher die Ausrichtung auf befriedigende Interaktionen und die Abwehr unbefriedigender oder gar schädlicher. Trieb ist mithin der Drang, Interaktionen in derjenigen Form hinzunehmen und aufzusuchen, die den Bedarf stillt und damit das Bedürfnis befriedigt. […] Die Wiederholung wird in dem Masse zum Wiederholungsdrang, in dem sich die befriedigende Erinnerungsspur materiell eingegraben, organisch verfestigt hat. […] Der Trieb ist das Ensemble aller Bestellungen, Befriedigung zu erlangen und wird so zum Gefüge bestimmter Interaktionsformen« (Lorenzer, 1986, S. 44).

Der Trieb bzw. das Freud’sche Es ist nicht nur das Reservoir körperlicher Trieb­energie, sondern schon Produkt der Auseinandersetzung von Natur und Kultur im Individuum, also gesellschaftlich hergestellt. Denn: Die primären Bezugspersonen formen mithilfe ihrer inneren, bekannten und unbekannten Beziehungsmuster und ihrer Einbettung in eine spezifische Kultur den sinnlich körperlichen Bedarf des Säuglings zu einer spezifischen Bedürfnisstruktur, die die individuellen Triebwünsche und Erregungsmuster und den Drang zur Wiederholung formen.3

»Die Mutter steht mit ihrem Erleben und Verhalten in gesellschaftlichen Zusammenhängen. Ihre einzelnen Verhaltensfiguren vermitteln dem Kind deshalb kulturspezifische, gesellschaftstypische Verhaltensmodelle. […] Europäische Mütter fassen das Kind anders an als Indiofrauen, Mütter der Mittelschicht anders als Arbeiterinnen …« (Lorenzer, 1981, S. 88).

Lorenzer nannte diese erste Schicht der Erinnerungsspuren menschlicher Erlebnisse: Bestimmte Interaktionsformen – bestimmt durch die mütterlichen Interaktionsmuster, die die gesellschaftlichen Verhältnisse an das Kind heranträgt. Lorenzers bestimmte Interaktionsformen bilden ebenso wie Sterns generalisierte Episoden die Grundbausteine der unbewussten, sinnlich unmittelbar eingravierten Triebstruktur, die ein wesentlicher Bestandteil des szenisch-prozeduralen Gedächtnisses bilden.

3.2 Die sprach-symbolischen Interaktionsformen

Im weiteren Verlauf der Entwicklung werden die früh gebildeten sinnlichen Beziehungs- und Erlebnisfiguren mit der Sprache verbunden und werden dadurch zum Teil unseres Bewusstseins:

»Im geglückten Falle verbindet und entfaltet sich die sensomotorische Welterfahrung des Kindes mit der in Sprache eingelagerten überindividuellen Welterfahrung des Kollektivs. Dies geschieht Zug um Zug in einem Aneignungsprozess, der zunächst Übernahme von der Mutter ist. In der Regel werden beide Systeme in unzähligen Situationen miteinander verbunden. Das Kind gewinnt so ein Doppelregistrierung, und es gewinnt mit der Sprache ein Spielfeld, das unabhängig von den realen Situationen betreten und benutzt werden kann. Dank dieser Doppelregistrierung vermögen wir uns Situationen vorzustellen, die nicht aktuell sinnlich präsent sind. Allmählich erlangt die Welt des Sprachspiels jene Eigenständigkeit, die es uns erlaubt, über vergangene und zukünftige Situationen zu sprechen, als ob sie gegenwärtig wären« (ebd., S. 91).

Die menschliche Fähigkeit, Sprachsymbole zu bilden und damit das Vergangene und Zukünftige vorstellen zu können, unabhängig von der aktuellen Situation, unterscheidet uns vom Tier. Mit dem Symbolsystem Sprache erlangen wir die Fähigkeit zum vorwärtsgewandten gedanklichen Probehandeln und zum rückwärtsgewandten Reflektieren. Sprache konstituiert unser Bewusstsein. Freud hat die Differenz des Systems Bewusst und des Systems Unbewusst bereits mit der Sprache verknüpft: »Die bewußte Vorstellung umfasst die Sachvorstellung plus der dazugehörigen Wortvorstellung, die unbewußte ist die Sachvorstellung allein« (Freud, 1912–13a, S. 300).

In Lorenzers Konzept ist die Sachvorstellung gleichbedeutend mit der szenischen Erinnerungsspur sinnlicher Interaktionsformen. Allerdings hat die Verfügung des Subjekts über die Sprache auch ihre Grenzen: Die Sprache stellt ein kollektives, kulturell strukturiertes, standardisiertes Ordnungssystem dar, während die individuelle Bedürfnisstruktur aus unseren sinnlichen Erlebnismustern, die sich in unserer spezifischen Beziehungserfahrung mit der spezifischen mütterlichen und familiären Umwelt gebildet haben, besteht. Die Einzigartigkeit und Vielfältigkeit unserer verinnerlichten sinnlichen Interaktionserfahrungen können nur unzureichend mit den objektiven, standardisierten Sprachzeichen unserer Kultur verknüpft werden. Zu vielschichtig und präsentativ sinnlich ist unsere szenische Erlebniswelt aus Bildern, Gerüchen, Klängen, Rhythmen, sensorischen und motorischen Erfahrungen, dass sie so einfach Eins zu Eins in diskursive Sprachformen übersetzt werden können. Es bleibt also immer ein Rest des sprachlich nicht Erfassbaren, den wir z.B. als bildhafte oder szenische Bedeutungshöfe, als Konnotationen im Umfeld des Sprachzeichens oder direkt als innere Szenen, Klänge, Gerüche, Fantasien, Imaginationen in Tagträumen bewusst und in Nachtträumen unbewusst erfahren. Die wachsende Erkenntnis, dass in der Sprache doch nicht alle Aspekte der Subjektivität aufgehoben sein können, führte auch in Abgrenzung von Lacan dazu, dass Lorenzer in der weiteren Theorieentwicklung noch eine weitere Schicht menschlicher Subjektivität konstruierte.

3.3 Die sinnlich-symbolischen Interaktionsformen

In der weiteren Entwicklung löst sich das Kind aus der Enge der Mutter-Kind-Dyade hin zum familialen Feld. Der Vater – sofern die Mutter die Dyade öffnet – wird als eine andere mit der Mutter in Beziehung stehende Spielfigur erlebt, der die Dominanz der Mutter relativiert und die Eigenständigkeit des Kindes fördert. Im kindlichen Spiel mit den Gegenständen wird die Selbstständigkeit erweitert. Das kindliche Spiel öffnet die Dyade hin zur Triade und zum Kollektiv. Freud hat in seinem berühmten Garnrollenbeispiel gezeigt, wie das kindliche Spiel aus der Erfahrung mit der Abwesenheit der Mutter entsteht: Bei einer Familienbeobachtung fiel ihm auf, dass sein 18 Monate alter Enkel nie weinte, wenn die zärtlich mit ihm verbundene Mutter wegging. Er beobachtete weiter und entdeckte die Bedeutung des kindlichen Spiels:

»Das Kind hatte eine Holzspule, die mit einem Bindfaden umwickelt war. Es fiel ihm nie ein, sie zum Beispiel am Boden hinter sich herzuziehen, also Wagen mit ihr zu spielen, sondern es warf die am Faden gehaltene Spule mit großem Geschick über den Rand seines verhängten Bettchens, so daß sie darin verschwand, sagte dazu sein bedeutungsvolles o-o-o-o und zog dann die Spule am Faden wieder aus dem Bett heraus, begrüßte aber deren Erscheinen jetzt mit einem freudigen ›Da‹. Das war also das komplette Spiel, Verschwinden und Wiederkommen, wovon man zumeist nur den ersten Akt zu sehen bekam, und dieser wurde für sich allein unermüdlich als Spiel wiederholt, obwohl die größere Lust unzweifelhaft dem zweiten Akt anhing« (Freud, 1920g, S. 12).

Freud beschreibt, wie ein Kind die passiv erlittene Trennung von der Mutter durch die Kreation eines sinnlich unmittelbaren Symbols (der Garnrolle) in eine aktiv gestaltete Spielszene verwandelt, in der es sich nun zum »Herren der Situation« (ebd., S. 14) machen kann. Das Spiel mit dem Gegenstand wird zum Bedeutungsträger von Abwesenheit und Anwesenheit der Mutter, das vom Kind nun aktiv und lustvoll wiederholt in Szene gesetzt werden kann. Die Aufrechterhaltung des Lustprinzips und die Abwehr des Leids ist der triebdynamische Motor für die Erschaffung sinnlicher Symbole, die im Spiel ihre szenische Verwendung finden. D.W. Winnicott nannte die vom Kind erschaffenen sinnlichen Symbole Übergangsobjekte und -phänomene und konzeptualisierte sie als Teile eines kreativen potenziellen Raums, der sich zwischen Mutter und Kind im Grenzgebiet zwischen innerer und äußerer Realität befindet: »Das Objekt repräsentiert den Übergang des Kindes aus einer Phase der engsten Verbundenheit mit der Mutter in eine andere, in der es mit der Mutter als einem Phänomen außerhalb seines Selbst in Beziehung steht« (1971, S. 25).

Diese Spiele mit gegenständlichen Bedeutungsträgern bilden einen Aspekt der Ebene der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen. Ein weiterer Aspekt sind textuelle Bedeutungsträger wie poetische Texte, Märchen oder Mythen, die szenisch sinnliche, bildhafte Konnotationen rund um die Sprachzeichen beinhalten. Als dritten Aspekt beschreibt Lorenzer personale Bedeutungsträger präsentativer Symbolik, wie signifikante Gesten, Körperbewegungen, Schauspiel, Tanz, Musik.

Sinnlich-symbolische Interaktionsformen spielen eine Rolle als Schaltstelle der Persönlichkeitsbildung und sind bedeutsam in der Identitätsentwicklung: »als erste symbolische Organisation einsozialisierter Entwürfe sinnlicher Bedürfnisse; anders gelesen: als jene Symbolschicht, die den sinnlichen Bedürfnissen in der emotionalen Ursprünglichkeit der Interaktionsformen am nächsten steht« (Lorenzer, 1981, S. 167).

Mit den sinnlich-symbolischen Interaktionsformen bekommt die Welt der ganzheitlichen Gefühle, Körpersensorien, Ahnungen, Berührungen, Empfindungen, Bilder, Gerüche usw. eine erste symbolische Formung. Ein Bereich des deskriptiv Unbewussten oder des Bildbewusstseins, das Freud als Vorbewusstes zum mittleren verbindenden Ort in seinem topografischen Modell des Traumes machte. Der Traum ist der Königsweg zum Unbewussten. Kinderanalytiker können hier ergänzen: Der Traum und die spielerisch-szenischen und bildhaften Kreationen des Kindes aus dem Bereich der sinnlich-symbolischen Interaktionsformen sind die Zugangswege zum vorsprachlichen Unbewussten, die peu à peu mit der höchsten Ebene der Sprachsymbole verbunden werden. Winnicotts Squiggle Spiel ist genau auf dieser Ebene der subjektiven Innenwelt des Ungefähren, des Allumfassenden, der nicht diskursiv sprachlich erfassbaren sinnlich präsentativen Symbolik, die in gemeinsamer Interaktion mit dem Kind neu erschaffen wird, anzusiedeln. Die Unterscheidung von diskursiver und präsentativer Symbolik stammt von der Philosophin Susanne K. Langer:

»Die durch die Sprache übertragenen Bedeutungen werden nacheinander verstanden und dann durch den als Diskurs bezeichneten Vorgang zu einem Ganzen zusammen gefaßt; Die Bedeutung aller anderen symbolischen Elemente, die zusammen ein größeres, artikuliertes Symbol bilden, werden nur durch die Bedeutung des Ganzen verstanden, durch ihre Beziehungen innerhalb der ganzheitlichen Struktur. Daß sie überhaupt als Symbole fungieren liegt daran, daß sie alle zu einer simultanen, integralen Präsentation gehören. Wir wollen diese Art von Semantik ›präsentativen Symbolismus‹ nennen, um seine Wesensverschiedenheit vom diskursiven Symbolismus, das heißt von der eigentlichen ›Sprache‹ zu charakterisieren« (1979, S. 103).

3.4 Der psychische Konflikt und das dynamisch Unbewusste

Nun läuft die Persönlichkeitsentwicklung in der Praxis nicht so harmonisch als aufeinander aufbauender dreigeschichteter Symbolbildungsprozess ab, in dem schließlich das Subjekt über die Ebenen der sinnlich-symbolischen und der sprach-symbolischen Lebensentwürfe die Kontrolle über die körpernahen Triebwünsche erlangt. Die Patienten kommen in die psychotherapeutischen Praxen, weil sie an Symptomen als Ausdrucksformen unverstandener Konflikte leiden. Die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft des menschlichen Konflikts – eine Konfliktpsychologie. Schon früh erkennt Freud, dass das menschliche Sein nicht nur ein Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch und vor allem ein Ensemble äußerer und innerer Konflikte ist. Freud verstand seelisches Leiden als Folge seelischer Konflikte zwischen Natur und Kultur, zwischen den Triebwünschen, die das Es bilden und den sozial einschränkenden Geboten der Gesellschaft, die das Über-Ich bilden und den Entfaltungsspielraum des Ichs leidvoll in die Zange nehmen.

Die Verknüpfung der sinnlichen Erlebnisstruktur mit Sprachsymbolen misslingt dort, wo die in Sprache enthaltenen Normen mit den bereits eingravierten Bedürfnissen der sinnlich unmittelbaren und sinnlich symbolischen Interaktionsformen in Widerspruch geraten.

Bei Lorenzer geraten die beiden Systeme der Persönlichkeit,

»nämlich die Triebmatrix und das normative Sprachsystem, in realen Lebenssituationen in einen Konflikt (in dem die Regeln des kollektiven Bewußtseins für nicht unterdrückbare Interaktionsformen unzumutbar werden), so wird die Verbindung zwischen Erlebnisfigur und Sprache wieder aufgelöst. Die symbolischen Interaktionsformen werden ›desymbolisiert‹, die Erlebnisfiguren werden wieder unbewußt. Bei einer Realisierung im Leben müssen diese verdrängten Interaktionsformen einen fatalen Kompromiss eingehen: Sie dürfen sich als Symptom äußern, verstümmelt zu Ersatzbefriedigungen und verkleidet mit falschen Namen, Sprachschablonen« (1981, S. 113).

Am besten lässt sich dieser Zusammenhang an der Neurosenentstehung zeigen:

»Ein junges Mädchen, welches kurz vorher den geliebten Vater verloren hatte, an dessen Pflege sie beteiligt gewesen war, […] brachte, als ihre ältere Schwester sich verheiratete, dem neuen Schwager eine besondere Sympathie entgegen, die sich leicht als verwandtschaftliche Zärtlichkeit maskieren konnte. Diese Schwester erkrankte bald und starb, während die Patientin mit ihrer Mutter abwesend war. Die Abwesenden wurden eiligst zurückgerufen, ohne in sichere Kenntnis des schmerzlichen Ereignisses gesetzt zu werden. Als das Mädchen an das Bett der toten Schwester trat, tauchte für einen kurzen Moment eine Idee in ihr auf, die sich etwa in den Worten ausdrücken ließe: Jetzt ist er frei und kann mich heiraten. Wir dürfen als sicher annehmen, dass diese Idee, welche die ihr selbst nicht bewusste intensive Liebe zum Schwager ihrem Bewußtsein verriet, durch den Aufruhr ihrer Gefühle im nächsten Moment der Verdrängung überliefert wurde. Das Mädchen erkrankte an schweren hysterischen Symptomen« (Freud, 1910a, S. 22).

Auch wenn die Fallgeschichte Elisabeth v. R. insgesamt deutlich komplexer ist, als er sie in seinen Vorlesungen an der amerikanischen Universität darstellt, beschreibt Freud für unsere Zwecke den Verdrängungsvorgang hier sehr verständlich. Ein Triebwunsch (die erotische Leidenschaft für den Schwager) wird mit einem Sprachgedanken (Jetzt kann er mich heiraten) verknüpft. Diese Verbindung gerät sofort in Konflikt mit der in den kollektiven Sprachzeichen einsozialisierten kulturellen Moral (man muss um die Schwester trauern) und wird wieder aus dem Sprachbewusstsein ausgeschlossen. Die sinnliche Interaktionsform wird namenlos, desymbolisiert und anstelle der Verknüpfung von sinnlichem Wunsch und Benennung tritt das Symptom, dessen Ursache nun sprachlos unbewusst ist. Dies hat zwei Konsequenzen:

Zusammengefasst: Das Unbewusste wird gebildet aus drei dynamisch wirksamen Praxisfiguren:

Erstens sind es die einmal mit Sprache verknüpften und dann im Konflikt ausgeschlossenen desymbolisierten Interaktionsformen, die den im Reiz-Reaktionsschema gefangenen neurotischen oder traumatischen Wiederholungszwang kennzeichnen.

Zweitens ist es die körpernahe Triebmatrix, die von vornherein als unsagbar, unvermittelbar mit den gesellschaftlichen Normen gelten kann.

Drittens sind es die sinnlich-unmittelbaren Symbole, die durch ihre ganzheitlichen präsentativ sinnlichen Niederschläge gar nicht oder nicht vollständig in das diskursiv begrenzende Sprachsystem des Kollektivs übersetzt werden können – die simultane integrale Welt der Bilder und Empfindungen.

Die ersten zwei Bereiche bezeichnen wir als das dynamisch Unbewusste, den dritten Bereich als das deskriptiv Unbewusste oder das Vorbewusste. Für die psychoanalytische Behandlung wie für die tiefenhermeneutische Textanalyse bilden sie den latenten Bedeutungsrahmen szenischer und sprachlicher Symbolik, die nur peu a peu ins Bewusstsein kommen kann: »Gibt man dem latenten Sinn zu schnell einen Namen, so verkürzt man nicht nur die sinnliche Hülle der Bedeutungen zugunsten des ›Verbalisierbaren‹, man läßt auch zuviel sozial Anstößiges, Noch-nicht-Bewußtseinsfähiges und deshalb Unsagbares zurück« (Lorenzer, 1986, S. 58).

4 Szenisches Verstehen

Somit sind die Grundlagen des kindlichen Bildungsprozesses skizziert als eine Entwicklung von verinnerlichten szenischen Beziehungs-Erfahrungen. »Das Unbewußte ist ein nicht sprachliches und nicht symbolisches Sinnsystem, das im Gegensatz zur sprachlichen Ordnung der Individuen steht« (ebd., S. 46). Dies bringt uns zur Eingangsfrage zurück: Wie kommt man mit Sprache in das Terrain der Sprachlosigkeit?

Lorenzer entfaltet sein Konzept des Szenischen Verstehens zum ersten Mal 1970 in seinem Buch Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Dort unterscheidet er zwischen drei Modi des Verstehens in der psychotherapeutischen Beziehung:

»Während das psychologische Verstehen sich auf die realen Abläufe im Subjekt konzentriert, beschäftigt sich das Verstehen, von dem wir sprechen, mit den Vorstellungen des Subjektes, und zwar so, dass es die Vorstellung als Realisierung von Beziehungen, als Inszenierung der Interaktionsmuster ansieht. Diese Verstehensart soll deshalb ›szenisches Verstehen‹ genannt werden« (Lorenzer, 1970, S. 142).

Ellen Reinke macht darauf aufmerksam, dass Lorenzer bereits 1968, also vor der Entwicklung seiner Theorie der Interaktionsformen, das Szenische Verstehen konzeptualisiert hat: »Hauptwerkzeug des psychoanalytischen Erkennens ist eine Verstehensart, die ich als ›szenisches Verstehen‹ bezeichnen möchte« (Lorenzer, 1968, S. 71, zit. n. Reinke, 2013, S. 26).

Ein weiterer Frankfurter Psychoanalytiker Hermann Argelander (1970) beschäftigte sich etwas später in klinischer Perspektive mit der Vielfalt der diagnostischen Erkenntnisse von Erstinterviews. Er übernahm den Begriff des szenischen von Lorenzer und konzeptualisierte eine szenische Funktion des Ichs, die es dem Patienten ermöglicht, eine situationsgerechte Darstellung einer unbewussten, infantilen Konfiguration als persönlichkeitsgebundene Triebszene in der Interaktion darzustellen. Ellen Reinke (2013) zeichnet den Weg der Verbindungen und Differenzen von Lorenzers und Argelanders Konzept des Szenischen nachvollziehbar auf. Dabei klärt sie auch den Irrtum einiger psychoanalytischer Autoren auf, die behaupteten, das Konzept des Szenischen stamme ursprünglich von Argelander und sei von Lorenzer lediglich vertieft worden. Argelander selbst hat keinen Anlass für dieses Missverständnis gegeben und eindeutig formuliert: »Von theoretischen Studien ausgehend, hat A. Lorenzer (1970) die Wichtigkeit dieses situativen, oder, wie er es nennt, szenischen Elements für die Psychoanalyse herausgestellt« (Argelander, 1970, S. 329).

Der Frankfurter Begründer der Fokaltherapie Rolf Klüwer entwickelte etwas später das verwandte Konzept des sprachlosen Handlungsdialogs, in dem der Interaktionspartner dazu gedrängt wird, eine vergangene Interaktionsform neu zu beleben, entweder als ein inneres Objekt oder als ein Teil des Selbst – mit dem Ziel, eine ehemals erhaltene oder niemals erhaltene, aber unbewusst gewünschte Befriedigung zu erlangen (vgl. Klüwer, 1983).

Dieser innerpsychische Druck zur Reaktualisierung vergangener sprachlos gewordener Objekterfahrungen im Wiederholungszwang bildet die Grundlage der zentralen Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung in der Psychoanalyse, die Lorenzer in seinem umfangreichen Begriff des Szenischen Verstehens konzeptualisiert hat. Joseph Sandlers Begriff der intrapsychischen Rollenbeziehung meint etwas Ähnliches: »Die Interaktion zwischen Patient und Analytiker wird großenteils (wenn auch natürlich nicht vollständig) durch das determiniert, was ich die ›intrapsychische Rollenbeziehung‹ nennen möchte, die jede Partei der anderen aufzudrängen versucht« (1976, S. 299ff.).

Da die Szene – die Interaktionsform – den Grundbaustein menschlicher Erlebnisverarbeitung darstellt, ist es nur dem Vorantasten von Szene zu Szene in der aktualisierten Übertragungs-Gegenübertragungsbeziehung der therapeutischen Begegnung möglich, die Grenze des Sprachbewusstseins zu überschreiten und einen verstehenden Kontakt zu den unbewussten sinnlichen Interaktionserfahrungen des Patienten herzustellen. Dies geht nur, indem der Analytiker bereit ist, sich durch seine frei flottierende Rollenspiel-Bereitschaft in das Spiel des Patienten verwickeln zu lassen.

»Der Analytiker steht nicht in beschaulicher Distanz zum Patienten, um sich – wie aus einer Theaterloge – dessen Drama anzusehen. Er muß sich aufs Spiel mit dem Patienten einlassen, und das heißt, er muß selbst die Bühne betreten. Er nimmt real am Spiel teil. […] Nicht das Verstehen bildet das Zusammenspiel, sondern die Wirklichkeit des szenischen Zusammenspiels konstituiert das Verstehen. […] Im Sich-Einlassen auf das Spiel des Patienten (der dem Analytiker eine Rolle in seinem Drama zuweist) kommt der Psychoanalytiker auf den Boden der unbewußten, sprachexkommunizierten Wirkungsschicht« (Lorenzer, 1983, S. 113).

In diesem Zitat wird die Ausgangsfrage beantwortet: Das bewusst wie unbewusst bedrängende teilnehmende Miteinander im Drama des Patienten bildet die Matrix, aus dem das Szenische Verstehen der ansonsten unsagbaren unbewussten sinnlichen Interaktionsformen erwächst. In der hochfrequenten Couchanalyse mit Erwachsenen, die Lorenzer als eigenes Erfahrungsfeld vor Augen hatte, ist dies ein eher innerer Prozess von Fantasie und Sprache. In der Kinderanalyse, aber auch in pädagogischen Handlungsfeldern konkretisiert sich das szenische Wechselspiel häufig sinnlich konkret, was den Handlungsdruck auf den Analytiker oder psychoanalytischen Pädagogen erhöht. Als Kinderanalytiker ist man zwangsläufig durch das Agieren und den körperlich drängenden Interaktionswunsch des Kindes zum Mitspielen gezwungen.

Die Erfahrung des unmittelbaren Zusammenspiels und sein Sich Einlassen mit dem eigenen ganzen Sein ermöglicht dem Analytiker, die aus Sprache ausgeschlossenen Verhaltensformeln aufzuspüren und im weiteren Verlauf Stück für Stück, Szene für Szene zu benennen und damit aus dem Druck des unbewussten Agierens hinauszuführen. Das Szenische Verstehen ist auf die aktuelle und aktualisierte nicht zur Sprache kommende Beziehungsform gerichtet, in die Patient und Therapeut verwickelt sind und eröffnet damit den analytischen Raum, in dem sich neue Bedeutungen entwickeln können, die über das schon Gewusste hinausgehen. Diese Methode ist auf permanente Selbstreflexion und Verflüssigung der eigenen lebenspraktischen Vorannahmen angewiesen. Lorenzer unterscheidet drei Arten von Vorannahmen, die der Analytiker an die Szenen und Texte heranträgt:

  1. »Lebenspraktische Vorannahmen als Abbild der individuell-subjektiven Struktur.
  2. Lebenspraktische Vorannahmen als Abbild typischer Gruppen auf bestimmten gesellschaftlichem Stand.
  3. Lebenspraktische Vorannahmen als Abbild typisch allgemein menschlicher Interaktionsstruktur« (1974, S. 161).

Diese Vornahmen trägt der Analytiker an sein Untersuchungsobjekt heran und reflektiert sie, um das Fremde wirklich durchdringen zu können und nicht allzu leicht in die eigenen bekannten Muster der Welterklärung einzuordnen. Lorenzer betont die große Bedeutung, die das Sich-Einlassen des erkennenden Subjekts auf das Wechselspiel mit dem Forschungsobjekt hat, als zentrales Instrument für die Erkenntnisbildung innerhalb der unabschließbaren, hermeneutisch psychoanalytischen Spirale.

5 Das psychodynamische Wechselspiel von Therapeut und Klientin

Wie sieht nun das interaktive Wechselspiel in der klinischen Praxis aus, und welche Möglichkeiten des Szenischen Verstehens gibt es? Zur Veranschaulichung habe ich eine Episode aus einer im Studium der Sozialen Arbeit von mir häufig benutzten Filmserie4 genommen, die den Vorteil hat, dass alle Leser sie sehen könnten und die nicht durch das Prisma der vorgefertigten Bedeutungszuschreibung eines Therapeuten im Rahmen einer Fallvignette gegangen ist. Eine Filmsequenz hat aber andererseits den Nachteil, dass wir vom Wechselspiel zwischen Übertragung und Gegenübertragung nicht aus der subjektiven Perspektive des Therapeuten erfahren können, sondern sie uns quasi aus dritter Position heraus als Supervisor interpretativ erschließen müssen. Dies ist zwar ein therapeutischer und kein pädagogisch/sozialarbeiterischer Dialog, zeigt aber in seiner Dichte doch sehr gut die verschiedenen Ebenen des Verstehens auf, die auch in der psychoanalytischen Pädagogik relevant sind.

5.1 Sophie – Fallbeispiel einer therapeutischen Interaktion

Der Therapeut sitzt an seinem Schreibtisch und liest in seinen Unterlagen. Die zweite Sitzung der achtzehnjährigen Sophie beginnt damit, dass der Therapeut einen merkwürdigen Anruf erhält, bei dem er unfreiwillig mithören kann, dass Sophie sich gerade auf der Herfahrt im Auto sitzend mit einem Mann im Streit befindet und etwas entfernt von der Praxis trotz strömenden Regens schon aussteigen will. Der Anruf endet. Der Therapeut schaut nachdenklich vor sich. Einen Moment später klopft Sophie an die Tür. Sie ist klatschnass und hat beide Arme von oben bis unten komplett in Gips. Nur die Finger schauen heraus. Die langen Haare hängen nass an ihr herunter, ebenso sind ihr T-Shirt und ihre dünne Sommerjacke durchnässt. Der Therapeut fragt vorsichtig:

»Ist alles …?«

»Es geht mir gut. Alles okay, alles okay.«

Sie kommt in den Raum und steht tropfend ihm gegenüber, erwähnt ihren Trainer, der sage, man müsse den Regen erleben, also habe sie ihn erlebt. Das hilfsbedürftige Aussehen des Mädchens führt zu einem spontanen Angebot des Therapeuten: »Ich hole Ihnen trockene Sachen.«

»Nicht nötig!«

»Wirklich? … Würden Sie sich vielleicht nicht wohler fühlen wenn … nein? … Warten Sie kurz!«

Er geht in einen anderen Raum des Hauses und holt trockene Sachen, während Sophie sich im Raum umschaut, zum Bücherregal geht, die Keramikfigur eines Piratenkopfes zwischen die Finger nimmt, betrachtet und umgedreht ins Regal zurückstellt. Der Therapeut kommt zurück und reicht ihr freundlich frische trockene Kleidung: »So, bitte!«

»Sind die von Ihrer Tochter?«

Zustimmendes »Mmh« vom Therapeuten.

»Haben Sie gefragt, ob das in Ordnung ist?«

»Nein, aber ich bin sicher, das macht ihr nichts aus … Und ich werde Ihre Sachen in den Trockner stecken, und am Ende der Sitzung sind sie trocken.«

Therapeut und Patientin stehen sich gegenüber und schauen sich an. Auf seinem Arm liegen die trockenen Sachen. Sophie hebt ihre beiden eingegipsten Arme auffordernd über ihren Kopf und ihre nass an ihr herunterhängenden Haare und sagt etwas vorwurfsvoll fordernd: »Na – Sie müssen mir schon helfen! … Ich hab’ mich seit meinem Unfall nicht mehr alleine ausgezogen.«

Beide schauen sich intensiv an. Der Therapeut denkt nach. Sophie auffordernd: »Na, helfen Sie mir nun oder nicht!?«

5.2 Das psychologische Verstehen der Beziehungsszenen

Stoppen wir hier und überlassen die Beantwortung dieser Frage Sophies zunächst unserer bildhaften Vorstellung. Schauen wir uns die Begegnungsszene an und versuchen – quasi aus supervisorischer Perspektive – die Situation zu betrachten wie eine reale Therapiesitzung und einige Aspekte zu analysieren.

Um das Wechselspiel zu verstehen, müssen wir versuchen, uns in die beiden Protagonisten hineinzuversetzen. Von Lorenzens Konzept ausgehend sehen wir, wie die Patientin schon in der Eingangsszene etwas inszeniert, in das sie den Therapeuten versucht zu verwickeln, genauer gesagt: Sie drängt ihn zum Mitspielen in ihrem veräußerlichten Beziehungsdrama. Sie ruft ihn an, redet aber nicht mit ihm, sondern lässt ihn »aus Versehen« zum passiven telefonischen Mithörer ihrer strittigen Beziehungssituation mit einem Mann in einem Auto werden. Irritiert und nachdenklich hört der Therapeut dieser Eingangssituation der noch abwesenden Sophie zu. Dann klopft sie patschnass und schutzlos dem Wetter ausgeliefert an die Tür. Nun ereignet sich Überraschendes. Der Therapeut scheint so von ihrer hilflos und bedürftig wirkenden Anmutung beeindruckt, dass er ihr vorsichtig tastend und nachfragend, schließlich doch fast drängend trockene Kleidung zum Wechseln anbietet. Wenn wir das in Szene gesetzte Interaktionsmuster auf einer ersten Bedeutungsebene betrachten, so haben wir hier ein von den Gewalten der Realität erschüttertes, bedürftig wirkendes Mädchen vor uns, das nonverbal den Wunsch aussendet, vom Gegenüber umsorgt und trocken gelegt werden zu wollen, dieses sinnlich unmittelbare Bedürfnis aber gleichzeitig durch die verbale Betonung ihrer Unabhängigkeit von sich weist: Nicht nötig! antwortet sie auf das Hilfsangebot. Der Therapeut lässt sich überraschenderweise von der widerständigen erwachsenen Sophie aber keinesfalls davon abbringen, sie mit trockener Kleidung zu versorgen. Er bleibt hartnäckig. Zu nass und bedürftig scheint das Mädchen auf ihn zu wirken, und zu stark scheint sein eigener Wunsch zu sein, hier mütterliche oder väterliche Versorgung walten zu lassen. Während er nun trockene Kleidung für Sophie holt, beginnt sie sich wie selbstverständlich im Raum umzusehen und nimmt – so gar nicht mehr das kleine bedürftige Mädchen – recht kess ein Utensil aus einem Bücherregal und stellt den kleinen Keramik-Piratenkopf – noch kesser – umgekehrt in das Regal zurück. Der Therapeut kehrt mit den trockenen Kleidern auf dem Arm zurück und Sophie deckt sogleich die mögliche Herkunft der Kleidungsstücke auf und bringt eine abwesende Mitspielerin unverblümt zur Sprache: »Sind die von Ihrer Tochter?« Er beantwortet die Frage wahrheitsgemäß, woraufhin die Patientin unsicher ist, ob der Tochter das recht sein würde. Der Therapeut behauptet implizit, dass er wisse, was in seiner Tochter vorgehe und zeichnet sie als gerne gebenden großzügigen Menschen: »Ich bin sicher, das macht ihr nichts aus.« Hier wird das sich schon anbahnende Klientin-Therapeuten Beziehungsmuster nun konkret in die Nähe einer Vater-Tochter Beziehung gerückt. Die professionelle Beziehung wird familialisiert. Der unbewusste Wunsch der Patientin verknüpft sich mit dem realen Vatersein des Therapeuten. Der Therapeut macht mit dem Angebot, ihr die Kleider seiner Tochter zu geben, sich sehr konkret zu einem Vater und sie zu seiner Tochter. Die Grenze zwischen Professionalität und Privatheit löst sich in diesem Handlungsdialog durch die agierende Mithilfe des Therapeuten gänzlich auf. Er scheint väterliches Mitleid mit ihr zu empfinden und ihr dargebrachtes Versorgungs-Bedürfnis konkret befriedigen zu wollen. Ihr latent inszeniertes Versorgungsbedürfnis scheint sich mit seinem latenten Väterlichkeits-Bedürfnis harmonisch konkret (aber nicht analytisch distanziert) zu verbinden. So weit so gut: Wenn man die Abstinenzregel etwas salopp auslegt und wenn die Patientin tatsächlich ein Mädchen wäre.

Aber nun konfrontiert die Patientin den Therapeuten radikal damit, dass sie körperlich bereits eine erwachsene Frau und damit ein genital reifes, sexuelles Wesen ist. Sie fordert ihn auf, ihr dabei zu helfen, die nassen Sachen auszuziehen und hebt provokant ihre eingegipsten Arme, damit er ihr T-Shirt ausziehe, was sie ja selbst nicht tun könne. In was für ein Schlamassel hat sich der Mann durch eigenes Mittun hineinmanövriert? Hat er sich gerade wie ein versorgender präödipaler Vater einer bedürftigen kleinen Tochter gegenüber verhalten, wird er jetzt plötzlich gewahr, dass er hier einer körperlich reifen Adoleszentin gegenübersteht, die jetzt nicht präödipal bedürftig wirkt, sondern ödipal sexuell provozierend. In scheinbarer adoleszenter Unschuld konfrontiert sie ihn radikal mit seiner Grenzübertretung vom Professionellen zum Privaten, vom Therapeuten zum Vater. Sie verbindet das nun mit einer scheinbar arglosen und gleichzeitig provozierenden Frage, die ihn zwangsläufig in ein Dilemma bringt: »Helfen Sie mir nun oder nicht?«

Natürlich will er sowohl als professioneller Therapeut wie auch als Übertragungs-Vater ihr helfen. Seiner wirklichen Tochter würde er in dieser Situation sicherlich helfen, denn die erotische Bedeutung der Nacktheit wäre durch das familiär abgesicherte Inzesttabu neutralisiert und aufgehoben in seiner Väterlichkeit. Aber würde er ihr helfen, wenn er hier seine professionellen Grenzen überschreitet und ignoriert, dass diese Übertragungs-Tochter-Vater Interaktion gleichzeitig eine sexuell aufgeladene Situation mit einer fremden erwachsenen jungen Frau darstellt?

5.3 Das Szenische Verstehen

Wenn wir von dem konkreten Handlungsdialog abstrahieren, so geht es hier um eine Szene, in der ein Mädchen, das ungeschützt dem Leben, den natürlichen Gewalten des Wetters ausgesetzt ist, hilfesuchend den Schutz bei einem versorgenden Mann sucht. Die Übertragung einer Tochter-Vater-Beziehung gerät abrupt und überwältigend in ein sexuell-inzestuöses, verführerisch gefährliches Fahrwasser, was der Therapeut durch die Überschreitung seiner professionellen Grenze hin zum versorgenden privaten Familienvater und dem körpernahen Angebot, ihr die Kleider seiner Tochter anzuziehen, selbst erst verursacht hat.

Wenn wir technisch analytisch das Verhalten des Therapeuten als agierte Gegenübertragung betrachten, dann können wir davon ausgehen, dass die Klientin den Mann zu einem sexuellen Grenzübertritt verführen will, obwohl ihr eigentlicher Wunsch nach Trockenheit und Wärme sich eher an einen mütterlich versorgenden Vater zu richten scheint. Wenn Sophie unsere Patientin wäre, würden wir also, vielleicht nicht sogleich, aber spätestens in der nachfolgenden Reflexion zu der Erkenntnis gelangen, dass hier ein frühes Bedürfnis nach Behütetsein möglicherweise zu früh in das Spannungsfeld erotisch-sexueller Konnotationen überführt worden ist.

Als Diagnostiker würden wir bei solch einer Patientin schnell vermuten, dass es in ihrer Lebensgeschichte eine sexuell verführerische Grenzüberschreitung gegeben hat, die als szenisches Muster eines Wiederholungszwanges nun mit uns als Mitspieler neu aktualisiert werden muss.

Der Film löst dieses spannungsreiche Verführungsdilemma recht eigenwillig, aber entwicklungspsychologisch plausibel auf. Entfernt von der Realität normaler psychotherapeutischer Praxen führt er die Privatisierung der therapeutischen Beziehung dabei auf die Spitze. In der nächsten Filmsequenz steht Sophie überraschend im Badezimmer der Familie und die Mutter des Hauses hilft einfühlsam mit ihr redend dabei, die nassen Kleider auszuziehen und sich zu trocknen. Eine sowohl elegante wie vertiefende filmische Darstellung der inneren Bedürfnisse des erwachsenen Mädchens. Der innere Verstehens-Prozess des Therapeuten geht derweil weiter. Er behält die Initiationsszene im Hinterkopf, in ihm hat sich bereits eine Ahnung ihres inneren triebdynamischen Konfliktmusters gebildet, die den weiteren sich verdichtenden therapeutischen Dialog und die Spurensuche mitgestaltet. Es entwickelt sich ein längerer intensiver tiefenpsychologischer Rapport, in dem sich beide trotz der adoleszenten Abwehrbewegungen von Sophie immer mehr ihren Beziehungserfahrungen, Konflikten und Ängsten nähern können. Schließlich ergibt sich für den Therapeuten die Möglichkeit, die Eingangssituation auf den Punkt zu bringen: als sinnlich konkrete Inszenierung ihres inneren Dramas:

»Als Sie reingekommen sind, da kam mir der Gedanke, dass einer in ihrem Leben die Regeln verletzt hat. Und ich habe gespürt, wenn ich ihnen geholfen hätte, ihre Sachen zu wechseln, das gleiche getan hätte. Ich hatte das Gefühl, als wäre das ein Test für mich. Sie wollten sich versichern, dass das hier ein sicherer Platz ist, dass die gleichen Dinge, die woanders passieren, hier im Hause nicht passieren.«

Ein unbewusstes Muster wird in der Übertragung aktualisiert und schließlich verbalisiert.

Sinnlich kodierte Interaktionsmuster werden durch die Handlung in einer Beziehung veröffentlicht und durch die Aufnahme- und Durcharbeitungskompetenz des Therapeuten zu sprach-symbolischen Interaktionsmustern. Ein gemeinsam geteiltes Evidenzerlebnis, ein emotional dichter Berührungsmoment entsteht, der das Vertrauen der Patientin stärkt und den psychoanalytischen Dialog im weiteren Gesprächsverlauf vertieft.

Diese Interpretation ist zwar psychoanalytisch inspiriert, bleibt aber letztlich auf der Ebene des psychologischen Verstehens. Denn wir interpretieren sozusagen als teilnehmende Beobachter Aspekte der sinnlichen und symbolischen Interaktionsformen der Patientin, die sie durch den triebdynamisch aufgeladenen Wiederholungszwang mit dem anderen zur Darstellung bringt.

Das Konzept des Szenischen Verstehens geht aber noch etwas tiefer und ist ohne die Analyse der Gegenübertragung nicht vollständig. Im Konzept des Szenischen Verstehens betrachten wir uns selbst als Mitspieler im Drama und bringen zwangsläufig unsere eigenen inneren Beziehungsmuster zur Darstellung. Da wir in dem filmischen Beispiel nicht teilnehmen können an der inneren Trieb- und Gefühlswelt des Therapeuten, bleibt uns nichts anderes übrig, als über die möglichen Gegenübertragungen bzw. Übertragungen des Therapeuten zu spekulieren. Wir müssen uns sozusagen mit ihm probehalber identifizieren, um Zugang zu seinen möglichen Beziehungsmustern zu erhalten:

Sophie ist eine attraktive und äußerst selbstständige Persönlichkeit, die einen heterosexuell orientierten Mann in seinem Alter durchaus erotisch anziehen könnte. Die längere intensive Eingangsszene, in der sie mit erhobenen Armen ihm lange in die Augen schaut und ihn auffordert, sie auszuziehen, ist von erheblicher sexueller Aufladung. Wenn wir uns in den Therapeuten hineinversetzen, können wir vermuten, dass in ihm bei der körperlich so direkt agierenden Sophie natürlicherweise sexuelle Fantasien aktiviert werden, die die Situation so dramatisch aufladen. Das heißt: In sich selbst spürt der Therapeut den Wunsch, die sexuelle Generationen-Grenze zu überschreiten, die professionelle Abstinenz aufzugeben und sie nackt vor sich zu sehen. Vielleicht gehen die aktivierten Fantasien auch noch weiter. Er erliegt der sexuellen Attraktivität der jungen Frau, die seine unbewussten und vielleicht auch bewussten Fantasien in erregender Weise stimuliert hat. Aber obwohl der Therapeut sich doch schon sehr weit auf das Terrain der privaten Beziehung gewagt hat, bleibt er dennoch professionell und nutzt seine inneren Fantasien zur analytischen Erkenntnisbildung. Innerlich ist er möglicherweise kurzzeitig unbewusst mit seinen erregend sexuellen Fantasien beschäftigt, äußerlich wehrt er das reale Agieren ab, indem er fast flehentlich und fast übergriffig zum versorgenden präödipalen Vater wird und die junge sexuell attraktive Frau aktiv zu seiner Übertragungs-Tochter macht und ihr sogar deren Kleidung zum Anziehen bringt. Durch diese Präödipalisierung kann er das ödipal Anstößige abwehren und für sich die Szene entschärfen. Mit der Familialisierung, die durch seine hinzukommende hilfreiche Frau so offen in Szene gesetzt wird, kann er aufkommende sexuelle Fantasien unter den Sicherheitsschirm des Inzesttabus bringen. Seine psychoanalytische Kompetenz zeigt sich nun darin, dass er – trotz aller auch von ihm agierten Grenzüberschreitungen – seine innere Bewegung reflektieren und schließlich in eine passende und annehmbare Deutung bringen kann, indem er die Verführungsszene als einen Beziehungstest deutet, der der begrenzenden Sicherheit des therapeutischen Raums gilt.

Mir ist es wichtig darzulegen, dass Lorenzer das psychoanalytisch-szenische Verstehen nicht nur als Verstehen einer sichtbaren Beziehungs- oder Spielszene verstanden hat. Wenn wir versuchen, eine bedeutungsvolle Beziehungsszene zu verstehen, bleiben wir auf der Ebene des psychologischen Verstehens, auch wenn wir dabei psychoanalytische Begriffe zur Einordnung der Patientin benutzen. Das Szenische Verstehen geht tiefer und betritt die Bühne der inneren Fantasien, mögen sie sexuelle, aggressive, ekelhafte, schamhafte, versorgende oder andere Gefühlsaspekte beinhalten, die uns dem psychoanalytischen Verstehen des Fremdpsychischen näherbringen.

Zur Wiederholung: »Im Sich-Einlassen auf das Spiel des Patienten (der dem Analytiker eine Rolle in seinem Drama zuweist) kommt der Psychoanalytiker auf den Boden der unbewussten, sprachexkommunizierten Wirkungsschicht« (Lorenzer, 1983, S. 113).

In dieser Filmszene hat der Therapeut sich mit all seinen eigenen Beziehungsmustern eingelassen auf das unbewusst inszenierte Spielangebot der Patientin, agiert quasi selbst einen Handlungsdialog, den er sekundär dann im Rahmen des Szenischen Verstehens zur diagnostischen Annäherung an die innere Erlebniswelt der Patientin nutzt. Bei Sophie ist es wahrscheinlich die zu früh eingetretene Sexualisierung kindlicher Versorgungs- und Haltewünsche, die sie unbewusst in die Szene mit dem männlichen Therapeuten einbringt und die durch die unbewusste triebdynamische Aufladung im Rahmen des Wiederholungszwangs den Druck zum Mitagieren des therapeutischen Mitspielers erhöht. Bei dem Therapeuten ist es wohl der eigene drängende Wunsch, ein guter verständnisvoll-versorgender Familienvater zu sein, der das innere inzestuöse Beziehungsdrama der Patientin mitgestaltet hat.

6 Abschließende Bemerkungen

Mein Anliegen ist es gewesen, die vielschichtigen konzeptionellen Überlegungen von Alfred Lorenzer auch für diejenigen, die nicht schon länger damit vertraut sind, einführend darzustellen. Insbesondere seine sozialisationstheoretische und entwicklungspsychologische Theorie der Interaktionsformen und sein Konzept des Szenischen Verstehens haben im Zusammenwirken mit Argelanders und Klüwers klinischen Anwendungen die psychoanalytische Diagnostik und Methodik wie auch die Psychoanalytische Pädagogik befruchtet.

Schon die innere Natur – der Trieb – ist bei Lorenzer nicht Biologie alleine, sondern besteht aus sozial hergestellten Szenen. Mit dieser gesellschaftskritischen Fokussierung wurde er zum vielleicht radikalsten Vertreter einer kritischen Psychoanalyse. Es sind konkrete Interaktionserfahrungen, die das Individuum bis auf die Ebene der Neurophysiologie strukturieren und somit das neuronale Fundament aller unserer Erfahrungen als Ergebnis von Sozialisation hervorbringen. Es ist das große Verdienst Lorenzers, die Subjekt formierende Dialektik von gesellschaftlichen und natürlichen Verhältnissen auf den Begriff gebracht zu haben. Das körperliche Begehren ist im Konzept der sinnlichen Interaktionsformen schon direkt neurophysiologisch gespeichertes Produkt einer Auseinandersetzung von Natur und Kultur, die sich über die Mutter-Kind-Dyade in den inneren Erlebnisraum des Subjekts eingraviert. Die gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmen im Sinne von Marx einerseits das menschliche Wesen bis in die Tiefenstrukturen hinein, andererseits lässt sich das Subjekt aber nicht so einfach durch die objektive Analyse der gesellschaftlichen Zuschreibungen erklären. Denn der Trieb ist nicht nur einfach formbare Körpernatur, dem menschlichen Wesen inhärent ist auch der Stachel des Nichtidentischen.

Die aktuelle Tendenz der Auflösung der Formungskraft des Körperlichen im sozialen Konstruktivismus wäre für Lorenzer letztlich wahrscheinlich zu einseitig kulturdeterministisch gewesen. Denn die Natur (dazu gehört der menschliche Körper) kann nicht allumfassend und alleine durch soziale Zuschreibungen geformt werden. Der Stachel des sinnlich unmittelbaren Nicht-Identischen – die Triebstruktur – steht auch für ein natürliches Widerstandspotenzial gegen die vollkommene Vereinnahmung durch die gesellschaftlichen Verhältnisse. Das macht die Vielfalt der menschlichen Subjektivität aus und stellt sich gegen die moderne kulturelle Tendenz, die gestaltende Kraft von Körper und Sexualität zu verleugnen und die personale Identität alleine auf soziale Formung zu reduzieren.

Anmerkungen

[1]
Eine leicht veränderte Version dieses Aufsatzes ist in Heft 4/2022 der Zeitschrift PSYCHE veröffentlicht worden.
[2]
Den Begriff der Tiefenhermeneutik verwendete auch Habermas und beschreibt ihn so: »Zum Objektbereich der Tiefenhermeneutik gehören alle Stellen, an denen der Text unserer alltäglichen Sprachspiele aufgrund interner Störungen durch unverständliche Symbole durchbrochen ist. Unverständlich sind solche Symbole, weil sie den grammatischen Regeln der Umgangssprache, den Normen des Handelns und den kulturell eingeübten Mustern der Expression nicht gehorchen« (1968, S. 277f.).
[3]
Die Allgemeine Verführungstheorie von Laplanche hat diesen Gedanken durch das Konzept der rätselhaften Botschaften der Eltern, die auf das kleine Kind einwirken und dessen Trieb formen, in verwandter Weise konzeptualisiert. Allerdings fokussiert Laplanche mehr auf die Formungsmacht des elterlichen Unbewussten, während Lorenzer mehr das körperlich fundierte Wechselspiel der Mutter-Kind-Dyade als gemeinsamen Produzenten der sinnlichen Interaktionsformen (= Trieb) betrachtet.
[4]
Vielen Lesern wird diese Szene bekannt vorkommen, entweder in der einen oder anderen Variation aus der eigenen Praxis oder ganz konkret aus der filmischen Darstellung der amerikanischen Serie In Treatment, die vor einigen Jahren im Fernsehsender 3sat lief, von vielen Interessierten gesehen und zum Bestandteil von Seminaren wurde. Man kann die beschriebene Szene manchmal bei YouTube (In Treatment, Sophie Session 2) aufrufen. Anfang des Jahres 2021 wurde eine französische Adaption dieser ursprünglich israelischen Serie im Fernsehsender ARTE mit dem Titel In Therapie ausgestrahlt. Beide Serien-Varianten sind hervorragende filmische Darstellungen intensiver Beziehungserfahrungen, in denen frühe Traumatisierungen und das sexuelle Begehren auch jenseits der therapeutischen Abstinenzregel eine besondere Rolle spielen.

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Winnicott, D.W. (1971). Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta.

Interaction forms and Scenic understanding

Theoretical foundations and clinical application

Summary: Proceeding from clinical experience and insights derived from his work at the Sigmund Freud Institute and the critical theory, Alfred Lorenzer developed in the course of his work a wide-ranging inventory of theories and methods pertaining both to a socialization-theoretic perspective on child education processes and to a specific methodology for the psychoanalytic understanding of unconscious relation patterns. Since then, his theory of »interaction forms« and »scenic understanding« has been part and parcel of psychoanalytic theory. Lorenzer understands even the inner nature – »drive« – of the individual not as purely biological but also as the product of socially created scenes. Accordingly, he sees the subject from the outset as a product of relational experiences initially defined as social through the agency of the mother-child dyad. This socio-cultural focus makes him perhaps the most radical representative of critical psychoanalysis. The article outlines his thinking on the socialization perspective and on specific methodology and indicates connections with other theorists. To illustrate the role of the »scenic« as a methodological basis for psychoanalytic understanding in the interaction between transference and countertransference, the author proposes an interpretation of the filmed version of a recent therapy situation involving a traumatized youth.

Keywords: socialization and developmental theory, psychoanalytic understanding, epistemology

Biografische Notiz

Frank Dammasch, Prof. Dr. phil., Diplom Soziologe, Diplom Pädagoge, analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (VaKJP), tätig in freier Praxis, Professor für psychosoziale Störungen von Kindern und Jugendlichen am Fachbereich Soziale Arbeit der Frankfurt University of Applied Sciences, Supervisor und Vorstand des Anna-Freud-Instituts, Frankfurt. Aktuelle Forschungs- und Veröffentlichungsschwerpunkte: Adoleszenz und Geschlechterdiffusion, Männliche Identitätsentwicklung, Vater- und Triangulierungsforschung, Migrationsforschung, Modernisierungsprozesse und Kindesentwicklung.