Editorial

Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik • Band 30 (2024), 7–18

https://doi.org/10.30820/0938-183X-2024-30-7 CC BY-NC-ND 4.0 https://jahrbuch-psychoanalytische-paedagogik.de

Der vorliegende Band 30 ist der dritte Jubiläumsband des Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik und somit ein weiteres und wichtiges Dokument für dessen Beständigkeit und Position im deutschsprachigen Diskurs der Psychoanalytischen Pädagogik. Gleichzeitig ist es der erste Band, der insbesondere durch das Engagement von Wilfried Datler zusätzlich zur Print-Version auch Open Access verfügbar ist. Für uns sind das zwei Anlässe zur Freude und für einen kleinen Rückblick auf die Entwicklungsgeschichte dieses Periodikums. Da die redaktionelle Arbeit an Band 30, die bereits im Jahr 2022 begann, mit der 100. Wiederkehr des Geburtstages des gesellschaftskritischen Frankfurter Soziologen und Psychoanalytikers Alfred Lorenzer zusammenfiel, haben wir uns entschlossen, ihm den Jubiläumsband 30 mit dem Titel Szenisches Verstehen in der Pädagogik. Grundlagen, Potenziale, Reflexionen zu widmen. Sein Werk ist, auch wenn es in seinem Ursprung nicht für die Pädagogik entwickelt wurde, bis heute weit über die Frankfurter Linie der Psychoanalytischen Pädagogik hinaus von grundlegender Bedeutung und sein Konzept des Szenischen Verstehens wirkt nach wie vor wie ein identitätsstiftendes Kit in der Psychoanalytisch-Pädagogischen Praxis, der Wissenschaft und den Räumen dazwischen. Gleichzeitig oder gerade deshalb lohnt sich das Vorhaben einer aktuellen Standortbestimmung des »Szenischen Verstehens«, mit dem wir dem Jubiläumsband 30 seine Struktur verleihen.

Der Rückblick

Ende der 1980er Jahre beschlossen Hans-Georg Trescher und Christian Büttner ein jährlich erscheinendes Periodikum zu gründen, um an die Psychoanalytisch-Pädagogische Diskurstradition anzuknüpfen, die von 1926 bis 1937 durch die Zeitschrift für Psychoanalytische Pädagogik entwickelt wurde, durch den Nationalsozialismus jedoch eine gewaltsame Unterbrechung erfuhr (Trescher & Büttner 1989, S. 7). Der Psychoanalytisch-Pädagogische Diskurs blühte zwar in den 1960er und 1970er Jahren bereits langsam wieder auf, er konnte aber in seiner Systematik nicht an die Vorkriegszeit anknüpfen. Im Auftrag des Frankfurter Arbeitskreises für Psychoanalytische Pädagogik (FAPP) erschien im Jahr 1989 das von beiden herausgegebene Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik Band 1 im Matthias Grünewald Verlag. Redaktionsmitglieder waren zu dieser Geburtsstunde Christian Büttner, Wilfried Datler, Urte Finger-Trescher, Hans Füchtner, Udo Rauchfleisch, Hans-Georg Trescher und Luise Wagner-Winterhager.

Im Editorial zu diesem Eröffnungsband formulierten Trescher und Büttner, dass im Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik die Diskussion der Bedingungen und Möglichkeiten im Zentrum stehen sollten, »unter denen in pädagogischen Arbeitsfeldern nach originär psychoanalytischen Methoden gearbeitet werden kann« (ebd., S. 8). Mit diesem Fokus und dem wichtigen Gedanken einer Systematisierung des Diskurses der Psychoanalytischen Pädagogik vor Augen formulierten sie für das Periodikum die folgenden Ziele:

Die wissenschaftliche Fundierung der Psychoanalytischen Pädagogik im Dialog zwischen Erziehungswissenschaft, pädagogischer Praxis und Psychoanalyse weiter voranzutreiben,

Bedingungen und Methoden (Techniken) professionellen Handelns in den Praxisfeldern der Pädagogik aufzuarbeiten,

Die Diskussion psychoanalytischer Sozialisationstheorie und Entwicklungspsychologie zu fördern,

Die politischen und sozialisationstheoretischen Implikationen von (institutionalisierten) Erziehungsverhältnissen zu thematisieren und darüber hinaus,

Das psychoanalytische Verständnis von pädagogischen Beziehungsverläufen in ihren Besonderheiten in der Fachöffentlichkeit zur Diskussion zu stellen« (ebd.).

Alfred Lorenzers Verständnis der Psychoanalyse als eines kritisch-hermeneutischen Verfahrens hatte erheblichen Einfluss auf die wissenschaftstheoretische und demzufolge auch auf die methodologische Auseinandersetzung und Weiterentwicklung der Psychoanalytischen Pädagogik, welche zur gleichen Zeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Institut für Sonder- und Heilpädagogik (FB Erziehungswissenschaften) gelehrt wurde. Insbesondere waren es Aloys Leber und Hans-Georg Trescher, die Lorenzers Konzept des Szenischen Verstehens dort zu einer handlungsorientierten psychoanalytisch-pädagogischen Fassung weiterentwickelt hatten. Zielsetzung war hier nicht mehr die Rekonstruktion und Durcharbeitung der verdrängten Szene, wie Lorenzer sie angelegt hatte, sondern eine Reflexion des Konflikts und eine direkte Förderung der Klient:innen. Leber führte das Szenische Verstehen weiter und entwickelte das Konzept des »Fördernden Dialogs« (Leber 1988), Trescher kennzeichnete in Anlehnung an Freuds Junktim von »Heilen und Forschen« die pädagogische Anwendung der Psychoanalyse als Verbindung von »Fördern und Forschen« (Trescher 1993, S. 170).

Dem (Druck-)Format eines Periodikums entsprechend, formulierten Trescher und Büttner als Ziel für das Jahrbuch genaugenommen die Bearbeitung von fünf aufeinander bezogenen Programmen, die das Jahrbuch und den Psychoanalytisch-Pädagogischen Diskurs vice versa in Bewegung bringen und halten sollten. Nach dem plötzlichen Tod von Hans-Georg Trescher im Jahr 1992 übernahmen Wilfried Datler, Urte Finger-Trescher und Christian Büttner die weitere Herausgeberschaft; 1997 wechselten sie vom Matthias Grünewald Verlag zum Psychosozial-Verlag in Gießen.

Ein bedeutsames Dokument dafür, dass das breite inhaltlich-thematische und methodische Spektrum des Jahrbuchs auf der Seite der Lesenden auf ein nachhaltiges Interesse stieß und sich das Jahrbuch auf dem Büchermarkt etablieren konnte, ließ sich mit dem Jubiläumsband 10 Die frühe Kindheit. Psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen zu den Entwicklungsprozessen der ersten Lebensjahre (Datler, Finger-Trescher, Büttner) im Jahr 1999 verbuchen. 13 Jahre später, im Jahr 2012, zeigte der Jubiläumsband 20 Psychoanalytisch-pädagogisches Können. Vermitteln – Aneignen – Anwenden (Datler, Finger-Trescher, Gstach) dann beispielhaft auf, dass sich das Jahrbuch, auch wenn es selbst in seinem jährlichen Erscheinen etwas aus dem Takt gerückt war, zu einer strukturierenden Instanz im Diskurs der Psychoanalytischen Pädagogik ausbilden konnte. Betrachtet man den Aufbau von Band 1 sowie den Aufbau der Jubiläumsbände 10 und 20, dann zeigt sich, dass diese Bände in besonderem Maße dem Anspruch verpflichtet waren, bestehende Diskussionen und deren z.T. offene Enden zusammenführen, sie zu konzentrieren und zu systematisieren. Mit dem Jubiläumsband 30 Szenisches Verstehen in der Pädagogik. Grundlagen, Potenziale, Reflexionen stimmen wir in diesen Anspruch ein und verbinden ihn mit dem Projekt einer Standortbestimmung des »Szenischen Verstehens« im Diskurs der Psychoanalytischen Pädagogik sowie ihrer Nachbardisziplinen.

Zum Schwerpunkt und zur Struktur des Bandes

Am 08.04.2022 wäre Alfred Lorenzer 100 Jahre alt geworden. Die Spannung zwischen Natur und Kultur, zwischen Körperfiguren und sozialen Erfahrungen, wie sie sich als Erlebnismuster ins Unbewusste des menschlichen Seelenlebens einschreiben, standen im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Schaffens von Alfred Lorenzer. Die Methode der Psychoanalyse, der Psychoanalytischen Pädagogik und der tiefenhermeneutischen Kulturanalyse prägte er vor allem durch sein Konzept des Szenischen Verstehens. Dass seine Person und ihr Werk an seinem 100. Geburtstag gefeiert werden wollte, wurde 2022 in zahlreichen Veranstaltungstiteln ausgewiesen:

Die Beobachtung, dass diese Veranstaltungen von ganz unterschiedlichen Personen und Professionen gestaltet und besucht wurden (Pädagog:innen, Lehrer:innen, Therapeut:innen, Literaturwissenschaftler:innen, Philosoph:innen, Sozialarbeiter:innen, Soziolog:innen, Architekt:innen u.v.w.), kann sicherlich mit der interdisziplinären Anschlussfähigkeit erklärt werden, die Lorenzer fest in seinem Werk verankern konnte. Und so schien es 2022, als wäre die Tradierung des Werkes Alfred Lorenzers in einem interdisziplinären Diskursraum auf einem vorläufigen Höhepunkt angekommen. »Wie jede Tradierung steht sie im Spannungsfeld von Wiederholung, Rebellion und kreativer Weiterführung« (Heyny in diesem Band). Zugleich transformierten die zahlreichen Vorträge und ihre Diskussionen die Metapher des Spannungsfeldes zu einem sinnlich-konkreten Erfahrungsraum, aus dem heraus wir folgende Fragen zur Gestaltung des Jubiläumsbandes ableiten konnten:

  1. Es stellt sich heute die Frage, wie im Spannungsfeld von Wiederholung, Rebellion und kreativer Weiterführung ein konkreter transgenerationaler Dialog zum Werk Lorenzers gestaltet werden kann oder aktuell schon gestaltet wird – insbesondere vor dem Hintergrund des Verständnisses, dass das Szenische Verstehens eine Kunstlehre sei.
  2. In diesem Zusammenhang wird zudem die Frage relevant, unter welchen Bedingungen mit und an dem Werk Lorenzers aktuell an den Hochschulen gearbeitet wird. Haben die Lorenzer-Schüler:innen in den 1970er und 1980er Jahren noch den institutionellen wie auch psychisch aufbauenden Prozess erlebt, in dem die Psychoanalyse insbesondere in der Linie von Alfred Lorenzer, Aloys Leber und Hans-Georg Trescher in die Pädagogik geführt werden konnte (vgl. Dammasch & Gerspach in diesem Band), so sehen sich junge Wissenschaftler:innen heute mit der inzwischen fast abgeschlossenen Verdrängung der Psychoanalyse aus den Hochschulen konfrontiert. Was macht dieser verunsichernde Erfahrungsraum mit dem Denken, dem Sprechen und dem Schreiben über Psychoanalyse, Psychoanalytische Pädagogik und das Szenische Verstehen im Speziellen? Können es sich junge Wissenschaftler:innen heute noch leisten, in Novellen zu schreiben, das subjektive Erleben als Erkenntnismittel zu nutzen oder bei ihren Erkenntnissen im Vagen zu bleiben?
  3. Die gleiche Frage stellt sich in gleicher Brisanz für die am Szenischen Verstehen orientierten und interessierten Praktiker:innen, die heute stärker denn je unter dem Dogma evidenzbasierter Trainingsprogramme sicher in Legitimationsbedrängnis geraten, wenn sie:
    1. anstelle einer Evidenzbasierung nach einem Evidenzerleben (Lorenzer 1974) suchen,
    2. Konflikte nicht ruhigstellen, sondern reflektieren wollen,
    3. sie sich nicht in spezifische Rollendistanz bringen, sondern sich ergebnisoffen szenisch verwickeln und entwickeln (Scharff 2009) lassen wollen,
    4. statt schneller Lösungen langwierige förderliche Dialoge (Leber 1988) anzielen oder
    5. sie sich mit dem Angebot zur Arbeit in der Übertragung (Trescher 1985) ins pädagogische Verhältnis begeben wollen.
  4. Zudem drängt sich die Frage auf, wie die Verhältnisse oder Verschränkungen zwischen den unterschiedlichen Diskurssträngen aktuell zu bestimmen sind, wenn das Szenische Verstehen in der Psychoanalytischen Pädagogik bspw. als persönliche Haltung (Würker 2012) oder pädagogische Handlungskompetenz (Würker 2022) beschrieben und konkretisiert wird, während in Texten zur Qualitativen Sozialforschung von einer wissenschaftlichen Forschungsmethodologie und Methodik gesprochen wird (Haubl & Lohl 2017). Oder anders gefragt, warum sind in den jüngeren Einführungsbüchern Alfred Lorenzer zur Einführung (König et al. 2020) sowie Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Sozialforschung (J. König et al. 2019) keine Verweise auf die Psychoanalytische Pädagogik und deren Verständnis von Fördern und Forschen enthalten? Und auch umgekehrt lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass in Psychoanalytisch-Pädagogischen Veröffentlichungen methodische Explikationen oder gar kritische Methodendiskussionen eher umgangen und Verweise auf die genannten Methodenbücher eher selten sind (vgl. Neumann und Katzenbach in diesem Band). Ist hier zu befürchten, dass sich der Diskurs zum Szenischen Verstehen in zwei Stränge teilt, die hinter das Freud’sche Junktim von Heilen und Forschen zurückfallen?

Diese Auswahl von Fragen hat uns bewogen, Beiträge einzuwerben, mit denen sich eine aktuelle Standortbestimmung des Szenischen Verstehens in der Pädagogik beginnen lässt. Sieben Beiträge konnten wir aus der Vortragsreihe »Das Soziale und das Unbewusste. Zum 100. Geburtstag von Alfred Lorenzer« gewinnen. Da diese Vorträge fast alle in transgenerationalen Vortragstandems gehalten und für die Veröffentlichung zum Teil auch in diesen Tandems geschrieben wurden, können wir mit ihnen die oben genannte Frage nach dem transgenerationalen Dialog in den Band führen – eine Frage, die immer wieder aufkommt und die zuletzt in der Lorenzer-NSDAP-Kontroverse aufflammte (Brunner et al. 2017; König 2019; Heim 2018; 2022). Zudem bieten einige dieser Texte Zugänge zu der Frage an, unter welchen Bedingungen und Perspektiven sich junge Wissenschaftler:innen aktuell mit dem Szenischen Verstehen befassen. Zumindest fällt auf, dass hier Fragen der konkreten Anwendbarkeit des Szenischen Verstehens vor allem bei den jüngeren Wissenschaftler:innen deutlich hinter grundlagentheoretischen und konzeptionellen Fragen zurückstehen und bei ihnen die Zielperspektive einer Relevanzvergewisserung und Anschlussfähigkeit des Szenischen Verstehens an akademische Mainstreamdiskurse dominiert. Ergänzen konnten wir diese sieben Beiträge um zwei weitere, die sich explizit mit dem Szenischen Verstehen als Forschungsmethode befassen und die dabei einen deutlichen Bezug zur Psychoanalytischen Pädagogik ausweisen.

In ihrer Summe verhandeln die Beiträge die historischen Wurzeln des Szenischen Verstehens, seine sozialisationstheoretischen Beiträge zum Bildungsprozess des Kindes und reflektieren deren Bezüge zur Forschung, Pädagogik, Sonderpädagogik, Kinderpsychotherapie und Sozialforschung.

Dem Format eines Jubiläumsbandes nur zu gut entsprechend, können wir mit einem freien Beitrag von Reinhard Fatke zum Ende des Bandes den Blick noch einmal ganz zurückwerfen und auf die Geburtsstunde der Psychoanalytischen Pädagogik aus einer neuen Perspektive schauen. Unter dem Titel: »Das Studium der Psychoanalytischen Pädagogen an der Universität Wien. Eine Auswertung ausgewählter Studienbücher« stehen im Zentrum seines Textes Siegfried Bernfeld, Willi Hoffer, Bruno Bettelheim und Fritz Redl. Auf der Grundlage von deren Studienbüchern untersucht Reinhard Fatke, was genau sie studiert haben und ob dies in Beziehung zu ihrer späteren psychoanalytisch-pädagogischen Tätigkeit steht. Mit diesem ersten Teaser leiten wir zu den Inhalten des Bandes über, die wir den Abstracts entlehnen.

Zum Inhalt des Bandes

Grundlagen

Eine grundlegende Einführung in Alfred Lorenzers umfangreiches Theorie- und Methodeninventar sowohl für eine sozialisationstheoretische Perspektive des kindlichen Bildungsprozesses als auch für die spezifische Methode des Szenischen Verstehens bietet Frank Dammasch mit seinem Beitrag »Interaktionsformen und Szenisches Verstehen. Theoretische Grundlagen und klinische Anwendung« an. Zur expliziten Veranschaulichung des Szenischen als methodischer Grundlage des psychoanalytischen Verstehens im Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung bindet Frank Dammasch Transkripte einer Therapie-Situation mit einer traumatisierten Adoleszentin aus einer neueren filmischen Darstellung der Serie In Treatment in seinen Beitrag ein. Da der Autor als Studierender noch über den Weg sinnlich-konkreter Begegnungen und Dialoge von Alfred Lorenzer selbst an dessen Werk herangeführt werden konnte, eröffnet der Beitrag auch die Frage nach der Qualität eben dieser, auf Interaktion basierenden Vermittlung des Szenischen Verstehens im Vergleich zu einer indirekten, auf Literaturexegese basierten Auseinandersetzung mit dem Szenischen Verstehen.

Ganz unmittelbar greift diese Frage Simon Heyny auf, der in seinem Beitrag »Anmerkungen zu Aktualität und Grenzen der Theorie Alfred Lorenzers« vor dem Hintergrund seiner persönlichen Leseerfahrung punktuell die Aktualität, mögliche Grenzen und Ergänzungsmöglichkeiten von Alfred Lorenzers Theorie herausarbeitet und einen Kommentar zum Beitrag von Frank Dammasch formuliert. Den Fokus legt Simon Heyny dabei auf die Diskussionen rund um die Pluralität psychoanalytischer Konzepte, der wissenschaftstheoretischen Fundierung der Psychoanalyse sowie der Analyse des Verhältnisses von Psychischem und Sozialem, wodurch der Beitrag ebenfalls auf die Grundlagen zielt und einen einführenden Charakter erhält.

Praxis

Mit seinem Beitrag »Der Brillenglotzer und die Angst. Alfred Lorenzer und das Szenische Verstehen in der Pädagogik« legt Manfred Gerspach einen Brückentext vor. Ebenfalls von den theoretischen Grundlagen ausgehend, aber mit einem genuin (sonder-)pädagogischem Interesse gelesen, führt er in Lorenzers Konzept des Szenischen Verstehens ein und zeichnet nach, wie dieses v.a. über die Arbeiten von Aloys Leber und Hans-Georg Trescher für ein (sonder-)pädagogisches Fallverstehen zunächst in die Sonderpädagogik gerückt wurde und von dort aus zu einer Grundlage der Psychoanalytischen Pädagogik insgesamt avancieren konnte. Dabei wird auch von ihm die Frage der Aktualität Lorenzers aufgegriffen und diese am Wandel der theoretischen Auffassungen von der Rekonstruktion des Originalvorfalls hin zur gemeinsamen Konstruktion neuer Bedeutungen der Vergangenheit expliziert.

Während in den ersten drei Beiträgen die unterschiedlichen Generationen der Lorenzer-Schüler:innen noch nacheinander zu Wort kommen, legen Dieter Katzenbach und Juliane Neumann ihren Beitrag gemeinsam vor: »(Nicht) Wissen, was ich (nicht) tun werde – Szenisches Verstehen in der Pädagogik. Überlegungen mit und ohne Anschluss an Lacan«. Den Ausgangspunkt ihres Textes finden die Autor:innen in der Beobachtung, dass das Konzept des Szenischen Verstehens, wie es von Alfred Lorenzer entwickelt und von Leber in die Psychoanalytische Pädagogik eingeführt wurde, bis heute einen hohen Stellenwert in der Reflexion des methodischen Vorgehens und des methodologischen Status der Psychoanalytischen Pädagogik einnimmt, während gleichzeitig zentrale Fragen der Übertragbarkeit des Konzepts aus dem Klinischen (Dammasch in diesem Band) ins Pädagogische (Gerspach in diesem Band) bis heute nicht hinreichend geklärt seien. Als Möglichkeit einer Wiederbelebung einer kritischen Reflexion und inhaltlichen Weiterentwicklung legen die Autor:innen das Moment des (Nicht-)Verstehens im Szenischen Verstehen vom Standpunkt Jacques Lacans aus und deuten einen daraus resultierenden Zugewinn für eine Psychoanalytische Pädagogik an.

Professionalisierung

Ebenfalls im Tandem fragen Marian Kratz und David Zimmermann in ihrem Beitrag »Reflexionsräume als soziale Gebilde« nach der Anschlussfähigkeit des Szenischen Verstehens an den professionalisierungstheoretischen Diskurs der Lehrkräftebildung. Hierfür vermitteln sie zwischen zwei subdisziplinären Strängen: dem strukturtheoretischen Ansatz in der Linie Ulrich Oevermanns und dem Ansatz der Psychoanalytischen Pädagogik in der Linie Alfred Lorenzers. Dabei werden die diskursleitende Kategorie des Lehrer:innenhabitus sowie die mit ihr assoziierte Metapher des Reflexionsraums als mögliche Anschlussstellen einer Vermittlung herausgearbeitet. Auf dieser Grundlage stellen die beiden Autoren zur Diskussion, dass sich innerpsychische, soziale und institutionsbezogene Professionalisierungsprozesse unter Bezugnahme auf das Werk Alfred Lorenzers präzisieren lassen.

Auf den (selbst-)reflexiven Professionalisierungsdiskurs in der Lehrkräftebildung richten auch Moritz Heß und Achim Würker ihren Blick. In ihrem Beitrag »Literatur, Lesen, Verstehen – Alfred Lorenzers Impulse für eine psychoanalytisch pädagogische Kompetenz« reflektieren die Autoren in einem transgenerationalen Dialog ihre Erfahrungen mit literarischen Texten, erläutern die sozialisatorische Bedeutung von Literaturrezeption und erforschen den Stellenwert, den Literaturinterpretation in pädagogischen Qualifikationsprozessen gewinnen kann. Durch das Beispiel einer Interpretationsdiskussion wird veranschaulicht, wie bewusstseinsferne Lebensentwürfe in der Auseinandersetzung mit den Wirkungen eines kurzen Kafka-Textes fassbar werden und wie Erfahrungen in der Gruppendiskussion dazu beitragen können, in der späteren pädagogischen Praxis Offenheit zu wahren und förderlicher zu handeln.

Forschung

Im Beitrag von Wendy Hollway und Lynn Froggett »Forschung zwischen subjektiver Erfahrung und sozialer Wirklichkeit«, den Moritz Heß und Marian Kratz für diesen Band vom Englischen ins Deutsche übersetzt haben, erkunden die Autor:innen konzeptionelles Terrain an der Schnittstelle zwischen deutschen und britischen psychoanalytisch geprägten Theorien (Alfred Lorenzer und Donald Winnicott). Dabei ziehen sie Lorenzers Konzept des Szenischen Verstehens zur Analyse einer Einzelfallstudie heran, die im Rahmen ihres Forschungsprojektes in der Tradition der Tavistock Infant Observation durchgeführt wurde. Auf der Grundlage ihres Datenmaterials fragen sie, ob es möglich ist, kollektive, gesellschaftlich-kulturelle unbewusste Prozesse (wie Rassismen oder Klassismen) über das Szenische Verstehen empirisch sichtbar zu machen. Im Zentrum ihres Beitrags steht dabei eine ausführliche Fallanalyse.

Jonas Becker greift dieses Projekt in seinem Beitrag »Szenisches Verstehen und internalisierter Rassismus. Überlegungen zur Tiefenhermeneutik aus einer rassismuskritischen Perspektive« auf. In ihm bringt er rassismuskritische Ansätze, psychoanalytische Perspektiven auf Rassismus und methodologische Überlegungen zur Tiefenhermeneutik miteinander ins Gespräch. Seine Auseinandersetzung mit dem Szenischen Verstehen dreht sich dabei um die Frage, welche Schwierigkeiten sich auftun, wenn Szenisches Verstehen auf rassismusrelevante Inhalte angewendet wird.

Lara Spiegler, Margret Dörr und Felicitas Beeck stellen in ihrem Beitrag »Tabuisierungen in sozialpsychiatrischen Interaktionen – Scham als Hüterin sozialer Meidungsgebote?« vor, wie über das Szenische Verstehen Tabuisierungsdynamiken in Interaktionen zwischen sozialpädagogischen Fachkräften und Adressat:innen gemeindepsychiatrischer Angebote in den Blick genommen werden können. Ausgehend von psychoanalytisch-sozialwissenschaftlichen Überlegungen zum Tabubegriff werden Tabuisierungspraxen in sozialpsychiatrischen Einrichtungen anhand von drei Interaktionssequenzen aus einer gemeindepsychiatrischen Wohnform hinsichtlich ihrer (psycho-)sozialen (Dys)Funktion befragt. Der ambivalente Charakter des Tabuisierungsgeschehens wird dabei in seinem brisanten Verhältnis zum Schamaffekt diskutiert.

Freier Beitrag

Passend zum 30. Jubiläum des Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik konnte als Freier Beitrag ein Text von Reinhard Fatke gewonnen werden, der den Blick weit über die Entwicklungsgeschichte des Jahrbuchs hinaus, ganz zurück auf die Anfänge der Psychoanalytischen Pädagogik richtet. Im Zentrum seines historisch-systematischen Textes »Das Studium der Psychoanalytischen Pädagogen an der Universität Wien. Eine Auswertung ausgewählter Studienbücher« stehen Siegfried Bernfeld, Willi Hoffer, Bruno Bettelheim und Fritz Redl. Auf der Grundlage von deren Studienbüchern untersucht Reinhard Fatke, was genau sie studiert haben und ob dies in Beziehung zu ihrer späteren psychoanalytisch-pädagogischen Tätigkeit steht. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, inwieweit in diesen Fächern die Psychoanalyse und die Psychoanalytische Pädagogik, die sich bis zu jener Zeit bereits entfaltet hatte, eine Rolle spielte. Mit dieser Rekonstruktion eines Teils der intellektuellen Biografien von vier prominenten Psychoanalytischen Pädagogen wird eine bisher bestehende Lücke in der Vorgeschichte der Psychoanalytischen Pädagogik zu schließen versucht.

Literaturumschau

Die in der Einleitung dieses Editorials formulierte Freude anlässlich des 30. Geburtstags des Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik und der 100. Wiederkehr des Geburtstages von Alfred Lorenzer wurde während der Fertigstellung des Jubiläumsbandes im Frühjahr 2023 von einem tiefen Gefühl der Trauer überschattet. Denn mit großer Betroffenheit müssen wir bekannt geben, dass Dr.in Judit Barth-Richtarz im Frühjahr 2023 verstorben ist. Die Redaktion des Jahrbuchs hat für diesen Band entschieden, ihr das Projekt einer Literaturumschau zu widmen. Mit dem Nachruf »Judit Barth-Richtarz (1977–2023)« würdigen ihre Kolleginnen und Freundinnen Alexandra Horak, Barbara Neudecker, Regina Studener-Kuras die Arbeit von Judit Barth-Richtarz im Rahmen der Psychoanalytischen Pädagogik und stellen ihre Verdienste in Forschung, Lehre und Praxis heraus.

Marian Kratz & Urte Finger-Trescher

Literatur

Brunner, M., König, H.-D., König, J., Lohl, J. & Winter, S. (2017). Alfred Lorenzer im Nationalsozialismus. Einladung zur öffentlichen Diskussion. Freie Assoziation, 1(20), 129–130.

Datler, W., Finger-Trescher, U. & Büttner, C. (1999). Die frühe Kindheit. Psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen zu den Entwicklungsprozessen der ersten Lebensjahre. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik. Band 10. Psychosozial-Verlag.

Datler, W., Finger-Trescher, U. & Gstach, J. (2012). Psychoanalytisch-pädagogisches Können. Vermitteln – Aneignen – Anwenden. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik. Band 20. Psychosozial-Verlag.

Haubl, R. & Lohl, J. (2017). Tiefenhermeneutik. In M. Günther & K. Muck (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschung in der Psychologie (S. 1–22). Springer.

Heim, R. (2018). »Sprache und Schweigen«. Anmerkungen zu Alfred Lorenzers Mitgliedschaft in der NSDAP. Freie Assoziation, 1(21), 120–125.

Heim, R. (2022). Alfred Lorenzers Mitgliedschaft in der NSDAP: Ein Postskriptum. Offener Brief an Hans-Dieter König. https://psychoanalytischesozialpsychologie.de/wp-content/uploads/Heim_Offener-Brief_20220524.pdf

König, H.-D. (2019). Innere Emigration und beruflicher Ehrgeiz. Szenische Rekonstruktion der möglichen Bedeutung von Alfred Lorenzers Eintritt in die NSDAP und zugleich eine Erwiderung auf die Kritik von Robert Heim. Freie Assoziation, 1(22), 84–95.

König, H.-D., König, J., Lohl, J. & Winter, S. (2020). Alfred Lorenzer zur Einführung. Barbara Budrich.

König, J., Burgmeister, N., Brunner, M., Berg, P. & König, H.D. (2019). Dichte Interpretation. Tiefenhermeneutik als Methode qualitativer Sozialforschung. Springer VS.

Leber, A. (1988). Zur Begründung des fördernden Dialogs in der psychoanalytischen Heilpädagogik. In G. Iben (Hrsg.), Das Dialogische in der Heilpädagogik (S. 1–61). Grünewald-Verlag.

Lorenzer, A. (1974). Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Suhrkamp.

Scharff, J.M. (2009). Verwickeln und Entwickeln – das analytische Paar und das Sexuelle. Psyche – Z Psychoanal, 63, 1–21.

Trescher, H.-G. (1985). Theorie und Praxis der Psychoanalytischen Pädagogik. Campus.

Trescher, H.-G. (1993). Handlungstheoretische Aspekte der Psychoanalytischen Pädagogik. In M. Muck & H.-G. Trescher, Grundlagen der Psychoanalytischen Pädagogik (S. 170). Psychosozial-Verlag.

Trescher, H.G. & Bittner, G. (1989). Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik. Band 1. Matthias-
Grünewald-Verlag.

Würker, A. (2012). Szenisches Verstehen. Alfred Lorenzers Konzeption psychoanalytischer Hermeneutik. Enzyklopädie Erziehungswissenschaft. https://www.beltz.de/fachmedien/erziehungswissenschaft/enzyklopaedie_erziehungswissenschaft_online_eeo/artikel/11841-szenisches-verstehen-alfred-lorenzers-konzeption-psychoanalytischer-hermeneutik.html

Würker, A. (2022). (K)ein distanzierter Blick auf pädagogische Praxis. Überlegungen zur Bedeutung des szenischen Verstehens von Fallschilderungen für die Bildung einer psychoanalytisch pädagogischen Handlungskompetenz. Zeitschrift Menschen, 2(45), 39–48.