Marie Frühauf
Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik • Band 31 (2025), 131–149
https://doi.org/10.30820/0938-183X-2025-31-131 CC BY-NC-ND 4.0 https://jahrbuch-psychoanalytische-paedagogik.deZusammenfassung: Im Beitrag soll gezeigt werden, welchen Blick eine feministisch-lacanianische Perspektive auf die (sozial-)pädagogische diversitätssensible Praxis ermöglicht. Grundlage dafür bilden Ergebnisse einer Studie zu Diversity-Sensibilität in sozialpädagogischen Beziehungen, in der Vorstellungen von Fachkräften über Diversity-sensible Beziehungen zu ihren Adressat:innen auf die ihnen inhärenten Begehrensdiskurse untersucht wurden. Der Beitrag geht diesen Begehrensdiskursen im Hinblick auf das darin eingelagerte Verhältnis zum:zur anderen an Hand von zwei Interviews mit Diversity-geschulten Fachkräften nach und kontextualisiert diese anschließend geschlechtertheoretisch.
Schlüsselwörter: Diversity-Sensibilität, Soziale Arbeit/Sozialpädagogik, Begehren, Lacan, Geschlechterverhältnisse
Die strukturale Psychoanalyse Jacques Lacans mag aufgrund der abstrakten und formalisierenden Sprache auf den ersten Blick wenig zugänglich und damit kaum praxistauglich erscheinen. Die zum Teil hermetisch anmutende Geschlossenheit seiner Theorie löst eine gewisse Skepsis gegenüber einer Übertragung auf die Vielfalt des konkreten pädagogischen Alltags aus. Dennoch wurden inzwischen eine nicht geringe Anzahl pädagogischer Anschlüsse an Lacans Subjekttheorie entwickelt, womit eine gewisse Produktivität auch für pädagogische Fragen beobachtet werden kann. (vgl. u. a. Koller, 1990; Rendtorff, 1996; Wimmer, 2006; Althans, 2007; Schuller et al., 2014; Wulftange, 2016; Boger, 2019; Langnickel, 2021; Frühauf, 2021). Welcher Blick wird mit einer lacanianischen und geschlechtertheoretischen Perspektive auf »die Dunkelstellen des pädagogischen Feldes« (Bittner, 1996, S. 259) ermöglicht, wie es im Exposé zu diesem Band heißt?
Im vorliegenden Beitrag soll ein solcher Blick auf die diversitätssensible sozialpädagogische Praxis geworfen werden. Mit Diversity-Sensibilität als einem zentralen gegenwärtigen Professionsideal werden in der pädagogischen Praxis derzeit hohe Gerechtigkeitsziele verbunden, die die Ausgestaltung der Beziehung zum:zur anderen in der pädagogischen Praxis betreffen. Die Vielfalt des Gegenübers wird dabei zum Ausgangspunkt für die Beziehungsgestaltung genommen. »Diversity-geschulte« Professionelle, so der empirische Befund,1 engagieren sich für einen diskriminierungsarmen und möglichst wenig vorurteilsbelasteten Umgang mit dem:der anderen. Trotz dieser zweifelsfrei wichtigen fachlichen Anliegen können in der Praxis immer wieder Spannungsverhältnisse zwischen professionellem (Selbst-)Anspruch und widersprüchlichen Dynamiken des (Nicht-)Erreichens dieser Ziele beobachtet werden. Die Frage stellt sich daher, wie sich diese aufschließen lassen und wie die Bezugnahme auf den:die andere im Professionsideal der Diversity-Sensibilität fachlich einzuordnen ist.
Eine feministisch-lacanianische Perspektive nähert sich den normativen Ansprüchen einer vielfaltssensiblen, antidiskriminierenden pädagogischen Praxis im Hinblick auf die unbewussten Begehrensdiskurse, von denen sie getragen werden. Was als Dunkelstelle im Folgenden beleuchtet werden soll, sind daher die (vergeschlechtlichten) Begehrenspositionen, die in sozialpädagogische Vielfaltsvorstellungen eingelassen sind, und die die Beziehung zum:zur anderen strukturieren. Das Begehren wird hierbei nicht als individuelle psychische Struktur untersucht, sondern gefragt wird nach Begehrensdiskursen, d. h. untersucht werden übergeordnete, historisch spezifische diskursive Anordnungen des Diversity-Diskurses, die die Einzelnen als Begehrende untereinander vermitteln. Einen methodischen Zugang zu Begehrensdiskursen bieten Rhetorikanalysen, wie sie im Anschluss an Lacans Frühwerk insbesondere in literaturwissenschaftlichen Arbeiten weiterentwickelt wurden. Im Folgenden werden zunächst die begehrenstheoretische Perspektive und ihre empirische Übersetzung dargelegt. Anschließend wird an Hand von zwei Interviews mit Diversity-geschulten Fachkräften dem Begehren sowie der darin eingelagerten Beziehung zum:zur anderen nachgegangen. Anschließend werden die Befunde geschlechtertheoretisch gedeutet und in einem Fazit resümiert. Letzteres erfolgte nicht nur aus einer theorieimmanenten Kritik heraus (zur Auseinandersetzung dazu siehe Frühauf & Hartmann, 2022), sondern auch, weil der Diversity-Diskurs in der Sozialen Arbeit durch die Geschlechtergeschichte des Feldes geprägt ist, wie im Folgenden verdeutlicht werden soll.
Zur Entstehungsgeschichte der im Folgenden dargelegten Studie zu Diversitätssensibilität gehört, dass sie in der Erhebungsphase zunächst nicht psychoanalytisch angelegt war. In Anlehnung an Andreas Witzel wurden problemzentrierte Interviews geführt, in denen Fachkräfte aus der Kinder- und Jugendhilfe dazu befragt wurden, welche Rolle Diversity in ihrem professionellen Alltag spielt. Die Fachkräfte kamen aus verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe (Schulsozialarbeit, aus dem Betreuten Einzelwohnen, aus der sozialpädagogischen Familienhilfe sowie aus der offenen Jugendarbeit) und hatten an verschiedenen Diversity-Fortbildungen teilgenommen. Nach einer ersten Sichtung des Materials fiel auf, dass die Fachkräfte in den Interviews weniger ihre Adressat:innen, sondern vielmehr ihr Selbst und die Selbstreflexion in den Fokus rückten und sich mit Diversity als einer Reflexionsmethode leidenschaftlich identifizierten. Dieser Befund des identitätsstiftenden Gehalts warf die Frage nach dem Begehren auf, das sich darin artikuliert. Die Analyseperspektive wurde entsprechend angepasst und eine Heuristik im Anschluss an den Begehrensbegriff Lacans sowie dessen geschlechtertheoretische Weiterentwicklung entworfen.
Der Begehrensbegriff der lacanianischen Psychoanalyse gründet auf einer sprachtheoretischen Interpretation Freuds, die das Begehren von einem biologistischen Triebverständnis löst und seine Entstehung in der Sprache und ihrer Struktur der Zeichen verortet. Das Begehren wird im Wesentlichen als eine unmöglich zu erfüllende, und daher die Befriedigung aufschiebende Bewegung charakterisiert (Lacan, 2015, S. 351). Ursächlich dafür ist die Sprache. Lacans Sprachverständnis geht auf seine Anschlüsse an Ferdinand de Saussure zurück, in dessen strukturalistischer Tradition Wünsche und Wollen nicht als etwas erscheinen, das durch einen intentionalen Sprecher zur Sprache gebracht wird, sondern ihre Bedeutung (die Signifikate) geht erst aus den Differenzen hervor, die die Signifikanten (das Symbolische), d. h. die materielle Seite des Zeichens, in Abgrenzung zueinander bilden (siehe zur saussureschen Annahme des Vorrangs des Signifikanten Lacan, 1957/2016, S. 587f.). Das Begehren und seine Bedeutung entstehen damit erst im »Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten« (Lacan, 1957/2016, S. 604), d. h. es ist maßgeblich durch die Sprache und damit durch eine dem Subjekt äußerliche Struktur geformt. Die Sprache ist damit weniger etwas, das ein ursprüngliches oder selbstidentisches Begehren zum Ausdruck bringt, sondern sie ist ein deutlich »unfreundlichere[r] Schnitt« (Copjec, 2004, S. 70), der das Begehren als etwas entstehen lässt, das im Grunde durch einen Anderen bestimmt ist und folglich für das Subjekt als Alterität erfahren wird.
Diese Alteritätserfahrung liegt insbesondere auch darin begründet, dass die zentrale Eigenschaft der Sprache ist, kein geschlossenes Bedeutungssystem bilden zu können. Aufgrund der Differenz zwischen Ding und Zeichen wird für Lacan im Symbolisierungsprozess stets ein Rest oder Überschuss produziert, der nicht durch das Symbolische assimiliert werden kann und folglich eine vollständige Präsenz der Dinge in der Sprache verunmöglicht. Diese strukturelle Verfehlung der Sprache bildet auch das Strukturgesetz des Begehrens: Nicht nur wird das Begehren an einem anderen Ort (der Sprache) gebildet, sondern als sprachlich vermitteltes ist es darüber hinaus stets auf etwas bezogen, das sich entzieht (Recalcati, 2000, S. 156). Es ist somit strukturell an eine Unmöglichkeit gebunden.
Diese Annahme über die Entstehung des Begehrens in der Sprache bindet Lacan an die Erfahrung und Begegnung mit konkreten anderen und ihrem (unmöglichen) Begehren zurück.2 Das Begehren bildet sich in der Auseinandersetzung mit der (unmöglich zu beantwortenden) Frage: Was will der andere von mir? (Lacan, 2015, S. 353). Bedeutsam hierfür sind die frühen Erfahrungen mit diesem unmöglichen Begehren, die das Kind in seiner Beziehung mit der ersten sorgenden Person macht. Damit ist die Position der Mutter angesprochen, verstanden als diese symbolische Position einer ersten sorgenden anderen, die historisch überwiegend von Frauen übernommen wurde. Die lacanianische Perspektive hebt die Konfrontation mit ihrem Begehren als eine Erfahrung des Getrenntseins hervor, die bewältigt werden muss, oder wie Bruce Fink es formuliert: Das Kind muss sich damit abfinden, dass es nicht das ein(zig)e Objekt des Begehrens der Mutter sein kann (Fink, 2011, S. 79). Zugleich ist das Kind aber von ihrer Fürsorge und Zuwendung existenziell abhängig. An diese Erfahrung mit der Unmöglichkeit des Begehrens der ersten sorgenden anderen bei gleichzeitiger Angewiesenheit schließen feministische Weiterentwicklungen der lacanianischen Subjekttheorie an. Neben den kritischen Auseinandersetzungen mit dem Phallozentrismus in Lacans eigenem Werk (siehe dazu Irigaray, 1979, 1980; Mitchell & Rose, 1982, aktuell dazu die Beiträge in Soiland et al., 2022) zeigen Luce Irigaray und im Anschluss an sie auch Tove Soiland, wie das patriarchale Geschlechterverhältnis auf phantasmatischen Verdrängungs- und Leugnungsprozessen dieser Abhängigkeit vom Begehren der Mutter beruht. In der ödipalen Struktur wird die Unmöglichkeit des Begehrens der Mutter im väterlichen Verbot untergebracht, die Verbotsfantasie als (unbewusster) Versuch gelesen, die Mutter jenseits des Verbots an einem symbolisch unvermittelten Ort ohne Spaltung, Mangel und Begehren zu belassen und folglich als potenziell unbegrenzt und immer zur Verfügung stehend zu fantasieren (vgl. dazu Soiland, 2010, 2014; Irigaray, 1979, 1980, 1989). Der Ödipus wird auf diese Weise historisiert und Lacans Begehrensbegriff an die Analyse gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse angeschlossen, indem eine männlich-patriarchale Begehrensökonomie problematisiert wird, die auf dem Ausschluss des Begehrens der Mutter basiert.
Was folgt aus alledem für die Analyse der (diversitätssensiblen) pädagogischen Praxis? Die pädagogische Praxis lässt sich zum einen daraufhin befragen, wie in pädagogischen Beziehungen mit dieser Unmöglichkeit des Begehrens des:der anderen pädagogisch umgegangen wird. Zum anderen ist anzunehmen, dass auch professionelle pädagogische Beziehungen durch historisch-spezifische (ödipale) Begehrensdiskurse geformt werden. Der Gewinn der geschlechtertheoretischen Weiterentwicklungen der lacanianischen Subjekttheorie liegt daher darin, die Begehrensanalyse für gesellschaftstheoretische Fragen zugänglich zu machen. Mit ihnen lässt sich nach dem »sozialen Ort« (Bernfeld, 1929/2012) des Begehrens fragen. Hatte Siegfried Bernfeld bezüglich des sozialen Orts die differenten Verortungen affektiver Dynamiken des Erziehers und der Kinder in der Klassengesellschaft im Blick, rücken im Anschluss an feministisch-lacanianische Perspektiven die Geschlechterverhältnisse als weitere Dimension des sozialen Orts pädagogischer Beziehungen in den Fokus (siehe die Auseinandersetzung mit Bernfeld bei Rendtorff, 2019). Insbesondere für die Soziale Arbeit liegt eine solche Perspektive auf der Hand. Ihre historische Genese als Frauenberuf brachte professionelle Selbstverständnisse mit sich, die sich lange Zeit ganz explizit auf Mütterlichkeitsideale und vergeschlechtlichte Beziehungsvorstellungen stützten (Fleßner, 1995; Maurer, 1997; Sachße, 2003; Brückner, 2008).
Die hier verfolgte Analyse von Begehrensdiskursen ist daher zu unterscheiden von der Analyse der individuellen psychischen Struktur der einzelnen Interviewpartner:innen. Auch wenn sich die Diskurse in den Interviews jeweils individuell ausprägen, zielt das Erkenntnisinteresse auf jene historisch spezifischen Begehrensdiskurse, wie sie sich im Sprechen über Diversity-Sensibilität zeigen. Um dem Begehren als einer solchen übergeordneten historisch spezifischen Konstellation nachzugehen, bietet sich der lacanianische Diskursbegriff an. Diskurse formen sich im Anschluss an Tove Soilands Lacaninterpretation als Antwort auf die Unmöglichkeit des Begehrens respektive des Genießens:
»Der ›Diskurs‹ im Sinne Lacans […] ist demnach ein gesellschaftliches Band, welches einer konstitutiven Unmöglichkeit in der Subjektgenese eine historisch eben wandelbare Form verleiht: Die je historisch feststellbaren unterschiedlichen Weisen der Subjektivierung sind unterschiedliche Formen, mit dieser Unmöglichkeit des Genießens zurande zu kommen« (Soiland, 2018, S. 107).
Einen Zugang dazu bieten Rhetorikanalysen. Diese schließen empirisch an die frühen Überlegungen Lacans zu der Bedeutung von rhetorischen Tropen für das Begehren an (siehe Lacan, 1957/2016 im Anschluss an Jakobson, zur feministischen Auseinandersetzung und Weiterentwicklung Muraro, 2018; Irigaray 2002). Empirische Verfahrensweisen sind bislang insbesondere in literaturwissenschaftlichen Arbeiten erprobt (Eigler, 1986; Lindhoff, 1995; Lüdemann, 2004; May, 2006). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Ebene der Bedeutungen des Textes mit ihrer rhetorischen Form konfrontieren. Der Fokus liegt hierbei auf solchen Stellen, an denen die Rhetorik die Sinnstrukturen bricht und Sinn und Bedeutung auf diese Weise an ihre Grenzen kommen, bzw. scheitern.3 Methodologisch zeichnen sie sich daher durch eine gewisse Skepsis gegenüber klassisch hermeneutischen Verfahren der Textinterpretation aus, »insofern Hermeneutik auf das Vermittelbare des Sinns, auf die Aufhebbarkeit des Realen ins Symbolische grundsätzlich vertraut« (Lüdemann, 1994, S. 147).
Die im Folgenden diskutierten Interviews stammen aus einer Studie, in der insgesamt acht leitfadengestützte Interviews mit Fachkräften aus der Kinder- und Jugendhilfe analysiert wurden. Die Fachkräfte kamen aus unterschiedlichen Arbeitsfeldern, sie haben alle an mindestens einem Diversity-Training teilgenommen und bezeichnen sich selber als »Diversity-geschult«. Der Feldzugang erfolgte überwiegend über die Trainer:innen solcher Angebote, die Trainings oder Fortbildungen selber waren nicht Gegenstand der Untersuchung. Auswahlkriterium der Trainings war erstens, dass sie ihrer Ausschreibung nach mehrere Diversity-Dimensionen behandelten. Zweitens wurde die Unterscheidung des Diversity-Fachdiskurses zwischen managementorientierten und gerechtigkeitsorientierten Zielen aufgenommen und die Trainings daraufhin ausgewählt, dass sie beide Zielorientierungen abdeckten. Dies schlug sich allerdings nicht in den Interviews als Differenzmerkmal nieder, da die Fachkräfte überwiegend an Gerechtigkeitszielen orientiert sind.
Die interviewten Fachkräfte verbinden, wie schon erwähnt, Diversity-Ansätze mit hohen Gerechtigkeitsansprüchen im Hinblick auf die Ausgestaltung der pädagogischen Beziehung zu ihren Adressat:innen. Um diese in der Praxis zu realisieren, heben die Fachkräfte die Reflexion der eigenen Vorurteile und Normalvorstellungen hervor. Diese seien aufgrund ihrer Sozialisation und Erziehung in der pädagogischen Praxis präsent und würden dort, wenn auch unintendiert, zu Abwertung und Ausgrenzung der Adressat:innen und ihrer Vielfalt führen. Die in den Interviews artikulierten Gerechtigkeitsvorstellungen lassen sich dabei kaum auf eine einheitliche Rhetorik zurückführen. Sie zeichnen sich allerdings durch ein überwiegend normativ-programmatisches Sprechen aus, das die Beziehung zum:zur anderen abstrakt und in Über-Ich-Diskursen formt. Der:die andere und sein:ihr (unmögliches) Begehren wird darin über eine stete normative Selbstkontrolle eher auf Distanz gebracht.
Diese These soll für zwei Interviews verdeutlicht werden. Die beiden hier vorgestellten Interviews wurden exemplarisch ausgewählt. Zum einen, weil sich in ihnen dieser Befund besonders eindrücklich zeigt, zum anderen, weil im Vergleich der beiden sichtbar wird, wie diese Über-Ich-Diskurse dennoch von unterschiedlichen Positionen aus mobilisiert werden. Dass es sich in beiden Fällen um zwei Fachkräfte handelt, die sich weiblich zugeordnet haben, mag kein Zufall sein. Allerdings lässt sich die Rhetorik der männlichen Interviewpartner (insgesamt zwei) dazu nicht in einen eindeutigen Kontrast bringen. Dieser Befund kann dafür sensibilisieren, dass die geschlechtliche Position eben eine soziale und symbolische Position ist, die biografisch Frauen eher nahegelegt wird, jedoch keine biologische Differenz bezeichnet (vgl. zum Begriff der sexuellen Differenz Frühauf & Hartmann, 2022). In diesem Sinne wird die im Folgenden ausgemachte vergeschlechtlichte Struktur des Diversity-Diskurses auch eher als Ausdruck der vergeschlechtlichen Strukturierung des Feldes der Sozialen Arbeit interpretiert.
Anna S.: Es [Diversity] fängt natürlich bei der Selbstreflexion an, weil Pädagogik ist keine technologisierbare Wissenschaft, sondern, die, meine ganze Persönlichkeit bring ich ja in die Arbeit mit ein; und ständig passieren Übertragungen, Gegenübertragungen, und ich hab einfach n ganzes Bündel, an Werten und Normen, in meinem Hirn, durch meine Erziehung, durch meine Sozialisation, die ich natürlich in die Arbeit mit rein trage. (.) und ähm diese Diversity-Seminare, oder der Diversity-Ansatz, der (.) so wie ich ihn verstanden hat is ja auch so dieses Hauptmerkmal (.) die Selbstreflexion; sich erst mal seiner eigenen Identitätsmerkmale bewusst zu werden. Der Vielfalt die man selber- (.) selber hat, sozusagen; dass ich eben nich nur Frau bin sondern auch noch viel viel mehr, (.) und dann wenn ich diese; Selbstreflexion sag ich mal habe, nen Stück weit, (.) der Prozess kann natürlich nie abgeschlossen sein, dann seh ich natürlich auch ganz andere Sachen in der Praxis (Int. 6, Z. 154–166).
Anna S., eine Fachkraft aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, begründet zunächst den Bedarf einer diversitätssensiblen Selbstreflexion für die pädagogische Praxis mit der Nichttechnologisierbarkeit der pädagogischen Beziehung. Der Umgang mit dem:der anderen lässt sich nicht technologisieren, was hier zunächst ausdrücklich anerkannt wird. Zurückgeführt wird dies darauf, dass die Fachkräfte aufgrund ihrer Sozialisation und Erziehung in der Praxis »ständig« »Übertragungen« und »Gegenübertragungen« produzieren würden. Die psychoanalytischen Begriffe der Übertragung und Gegenübertragung sind jedoch weniger ein Hinweis auf die Reflexion unbewusster Wünsche und Gefühle, die in der Praxis reaktiviert werden können und die als Ansatzpunkt für die Beziehungsarbeit genommen werden. Stattdessen sind mit Übertragungen eher enge, eindimensionale Identitätsverständnisse gemeint, die zu einer verzerrten, »fehlerhaften« Wahrnehmung in der Praxis führen. Unhinterfragt verhindern sie, dass die »eigentliche« Vielfalt des eigenen (»ich bin noch viel viel mehr!«) und damit auch des:der anderen gesehen wird. Die anschließend geforderte Selbstreflexion bleibt etwas schillernd, einerseits »hat« man sie, was als Formulierung suggeriert, es gehe hier doch um eine eher rationale Aneignung eines bestimmten Wissens über die eigene Vielfalt, mittels dessen dann eine Art »richtige« Wahrheit über das selbst und andere erlangt wird. Dieser »ganz andere« Blick auf diejenigen, mit denen man in der Praxis zu tun hat, gelingt andererseits immer nur »ein Stück weit«. Das Ausbrechen aus den sozialisierten Normalvorstellungen und (Geschlechter-)Kategorien lässt sich nicht abschließen, weshalb die Reflexionsarbeit eine permanente Aufgabe bleibt.
Werden die in die Praxis getragenen Normen und Wertvorstellungen an der Stelle noch als »natürlich« beschrieben und damit eher als gewöhnlicher, wenn auch bearbeitungsbedürftiger Normalfall angesehen, verstärkt sich im weiteren Verlauf auf rhetorischer Ebene der aufgebrachte Ton:
Anna S.: […] und wir wissen ja allein durch die ganzen Studien, aber auch durch den Alltag in der Praxis; dass es einfach ständig Ausgrenzung gibt, und diese Kinder und Jugendlichen, oder auch wir Erwachsene, ständig Ausgrenzungserfahrungen machen (Int. 6, Z. 178–181).
Wurde die Nichttechnologisierbarkeit der Beziehung zum:zur anderen zuvor noch als professioneller Anlass für Selbstreflexion bestimmt, aufgrund dessen es keine Garantie dafür gibt, dass der:die andere in seiner:ihrer Vielfalt niemals Ausschluss oder Ausgrenzung in der pädagogischen Praxis erfährt, erscheint diese Nichttechnologisierbarkeit hier in der rhetorischen Form der Steigerungen und Anklagen eher als bedrohlicher Dauerzustand, dessen Omnipräsenz (zu jeder Zeit, es kann jeden treffen, auch die Erwachsenen) aufgrund der potenziell damit verbundenen Beschädigungen eher inakzeptabel erscheint. Das Selbst der Fachkräfte wird dabei metaphorisch im Bild einer permanenten Gefahrenquelle für andere fixiert, der man zugleich kaum habhaft werden kann. Anna S. scheint im weiteren Verlauf des Interviews unentwegt darum bemüht, sich von ihrem sozialisierten Selbst zu befreien, doch noch die »richtige« Antwort auf den:die andere:n zu gewinnen. Doch aufgrund dessen, dass eine technologisierte Beziehung unmöglich bleibt, bringen sie diese Versuche auch im weiteren Verlauf weiter in eine vorwurfsvolle Rhetorik hinein. So endet auch das Ausmalen einer diversitätssensiblen Beziehung zum:zur anderen weniger in Vorstellungen über eine »gute«, gelingende Praxis, sondern in ein vorwurfsvolles Sprechen gegenüber der pädagogischen Praxis:
Anna S.: […] dass man sich auch überlegt, […] wie fühlen sich die einzelnen Kinder und Jugendlichen, die hier herkommen; gewertschätzt; sag ich mal; ähm ja wie kann ich ihre; ja, einfach- wie kann ich auch in Gesprächen; sag ich mal durch Kommunikation, also; überhaupt auch mal zu fragen, wie ist denn so deine Familie; so was ist das für n Geschwisterkind, hat das viele Geschwister, geht es freitags in die Moschee, oder nich, oder; ähm hat es irgendwelche bestimmten Hobbys, was mag es- äh was is sein Lieblingsspielzeug; ähm. welche Bands hört es- hört der Jugendliche; also sich darüber, sag ich mal Gedanken zu machen; und darüber halt dann auch dem Kind oder dem Jugendlichen ne Wertschätzung zu geben, auch gegenüber den Eltern. Also auch wenn die jetzt sag ich mal keinen Beruf haben; sondern vielleicht ja; anderen Tätigkeiten nachgehen; n tolles Hobby haben also dass ich das sozusagen mitdenke; und nich immer; und auch kritisch bin mit diesem Begriff normal; so. Sondern irgendwie immer gucke, dass dass ja. Dass alle irgendwie mit einbezogen werden und dass auch das spiegelt sich auch in der Sprache wieder; also wie oft, äußer ich denn ja; vielleicht ne nich ganz diskriminierungsfreie Sprache. Die dann eben nich, die Vielfalt mit einbezieht (Int. 6, Z. 366–372).
Anna S. beschreibt hier zunächst ihre wertschätzende Bezugnahme auf die Kinder und Jugendlichen über eine grundsätzlich fragende Haltung gegenüber diesen, in der »kritisch« die eigenen Normalvorstellungen hinterfragt werden. Die Norm der christlich bürgerlichen Kleinfamilie sowie der Erwerbsarbeit wird hier angesprochen und von ihr befragt. Daneben geht es auch um die Wahrnehmung der jeweils individuellen Präferenzen und Vorlieben. In der Rhetorik zeigt sich, dass diese wichtigen Anliegen jedoch auch von Kontrollwünschen begleitet sind: Die Fragen, die eine Offenheit für das Gegenüber ermöglichen sollen, richten sich in der rhetorischen Form eines Imperativs eher an das eigene Selbst (Denk mit! Sei kritisch mit dem Begriff normal! Guck, dass alle mit einbezogen werden!). Es scheint so, also ob mittels einer reflexiven Kontrolle doch noch »alle irgendwie mit einbezogen« werden könnten, was angesichts der vorher aufgemachten Fragen als ein Einbezug der Adressat:innen in die Angebote zu verstehen ist, der sie »ganz«, d. h. in all ihren Bedürfnissen und Identitäten einbezieht. Damit wird der:die andere jedoch in den eigenen Wunsch der normativen Selbstbeherrschung und den Wunsch, alle einbeziehen zu können, eingespannt. Nicht nur wird der:die andere hinter den eigenen Vorurteilen als grundsätzlich selbstidentisch imaginiert, sondern auch jede potenzielle Differenz zwischen dem, was die Fachkraft will (alle einbeziehen) und dem, was die Adressat:innen wollen (ihre vermeintlichen Bedürfnisse nach einem vollständigen Einbezug usw.) wird in einer fantasierten harmonischen Beziehungsvorstellung jenseits der sozialisierten Normen und Werte aufgehoben. Die unmögliche Garantie, Verfehlungen und Ausschlüsse des:der anderen und seines Begehrens in der Praxis zu vermeiden, die vorher noch von Anna S. betont wurde, wird auf diese Weise eingestanden und zugleich rhetorisch verleugnet.
Kirsten W., eine Schulsozialarbeiterin, assoziiert die Diversity-sensible Beziehung zunächst in einer ähnlich allumfassenden Idee der Berücksichtigung der »komplette[n] Unterschiedlichkeit« (Int. 1, Z. 418), bzw. »al- sämtliche[r] Facetten« (Int. 1, Z. 421) der Kinder- und Jugendlichen. Dem Wunsch, durch die Diversitätssensibilität allen gerecht zu werden, steht auch bei ihr die eigene Sozialisation und Erziehung im Wege:
Kirsten W.: […] ich kann meine Persönlichkeit nich äh ich bin ja auch irgendwie sozialisiert, und dadurch seh ich natürlich wieder auch Dinge so wie ich sie inner Gesellschaft beigebracht hab, mir abgeguckt hab und; mir is klar dass ich auch ähm; ne bestimmte Sozialisation erlebt hab, die mich eben zu dem macht wie ich Dinge sehe, und erkenne, und da seh ich auf jeden Fall die Grenze, dass man nie (.) ganz neutral mit allem umgehen kann, selbst wenn man sehr offen versucht auf alles ähm; zuzugehen (Int. 1, Z. 481–487).
Kirsten W. betont hier zunächst – recht ähnlich wie Anna S.’ Rekurs auf das Technologiedefizit –, dass eine neutrale Perspektive auf das pädagogische Gegenüber eine Unmöglichkeit darstellt. Dass auch Kirsten W. trotz der Betonung der Unmöglichkeit eines solchen neutralen Standpunkts letztlich damit hadert und an dem Wunsch, dem:der anderen neutral zu begegnen und auf diese Weise allumfassend, »ganz« gerecht werden zu können, festhält, darauf lassen sich ebenfalls Hinweise in der Rhetorik finden. Auch in ihrem Interview zeigt sich eine vorwurfsvolle Rhetorik, diese richtet sich aber weniger gegen die Praxis im Allgemeinen, sondern gegen ihr eigenes Selbst. Kirsten W. ist im Interview immer wieder ihren eigenen Verfehlungen auf der Spur, wie sich in folgendem Zitat zeigt:
Kirsten W.: Also ich bin der Meinung, dass hier alle herkommen können, ich bin der Meinung, dass auch (.) eigentlich aus Sicht der anderen, jeder sich (.) ähm (.) eingeladen fühlen kann, dass jeder ähm die gleiche Voraussetzung findet oder hat; zu mir zu kommen, also hoff ich zumindest dass da keiner sagt ja das is ne Frau deswegen geh ich nich hin, (.) äh das weiß ich natürlich nicht optimal wärs natürlich schon, (.) aufgrund unserer gesellschaftlichen Bedingungen äh; wenn nen Mann und ne Frau da wären, weil bestimmt manche Probleme vielleicht auch von Mädchen oder von Jungs ähm; eher angenommen oder angesprochen würden wenn; wenn hier n Mann säße, (.) ähm; jetzt falle ich zurück in @meine@ Erziehung und denke vielleicht is n Mann lockerer aber @(.)@ äh; oder cooler, oder ich äh weiß ich nich also ich versuch hier ja; also geschlechterneutral, ich ähm; mein Schwerpunkt im Studium war ja auch gender (Int. 1, Z. 778–795).
Kirsten W. vertritt hier zunächst relativ bestimmt ihre eigene Arbeit als ein Angebot, das niemanden ausschließen würde. Doch direkt im Anschluss werden die eigenen Behauptungen rhetorisch infrage gestellt. Zweifel tauchen auf: Können sich wirklich alle eingeladen fühlen? Sie sagt, sie hoffe es, aber sie fragt sich im weiteren Verlauf, ob ihr Angebot aufgrund ihrer eigenen vergeschlechtlichten Person nicht eigentlich den Zugang für manche (Jungen) verstellt. Doch selbst dieser Gedanke, zunächst noch als professionelle Einschätzung einer sozialisationsbedingten Geschlechterspezifik formuliert, wird umgehend infrage gestellt und metareflexiv auf die darin enthaltenen Zuschreibungen überprüft, die erneut als Zumutung für andere erscheinen. Ihr Verdacht scheint sich zu bestätigen, dass sie selbst erneut einem Vorurteil aufgesessen ist und darüber Ausschlüsse produziert. Lachend und zugleich wie beichtend deutet sie ihre eigene zuvor formulierte fachliche Position nun als »Rückfall« in ihre eigene Erziehung. Der Bezug auf die eigene Erziehung bleibt dabei abstrakt, ohne konkreten Bezug auf die eigenen vergeschlechtlichten Erfahrungen.
Was lässt sich überhaupt noch sagen, wenn jede Bedeutung, die hervorgebracht wird, das pädagogische Gegenüber nur verfehlen kann? Kirsten W. zögert, (»oder ich, äh, weiß ich nich«), gerät unter Rechtfertigungsdruck und erklärt ihre Bemühungen als Versuch, »geschlechterneutral« – und bricht ab. Das Wort »neutral« taucht erneut als normativer Fluchtpunkt auf. Ihre Rhetorik des Verdachts führt sie letztlich zu einem Abbruch von Symbolisierungsversuchen, da jeder Deutungsversuch des:der anderen und des eigenen professionellen Tuns angezweifelt wird. Der Verzicht auf Symbolisierung scheint jedoch gerade das Ideal aufrechtzuerhalten, eine neutrale und damit absolut gerechte Bezugnahme auf andere sei doch noch möglich. Neutralität wird mit Gerechtigkeit gleichgesetzt, eine absolute Gerechtigkeit gewissermaßen als Auskommen ohne jegliche Setzungen und Symbolisierung imaginiert. Auch bei Kirsten W. ist daher die Fantasie einer Beziehung zum:zur anderen zu beobachten, die qua unentwegter Selbstbefragung alle Verfehlungen des:der anderen doch noch auszuschließen vermag. Was der:die andere will, scheint in einer Art Selbstneutralisierung prinzipiell grundsätzlich zugänglich und vollständig erfüllbar.
Allerdings gibt es auch Stellen im Interview, an denen der:die andere als unverfügbar oder auch als Grenze auftaucht. Dies ist jedoch eher abseits des Diversity-Diskurses zu finden, etwa ganz am Ende des Interviews, wo sie auf einen Schüler zu sprechen kommt, den sie mit ihrem Angebot nicht erreichen konnte:
Kirsten W.: […] da denk ich schon ab und zu dran wie’s dem jetzt wohl geht, ähm (.) und hoffentlich is er in ner anderen Schule gut aufgehoben, (.) aber da merkt man schon, wie; wie groß der Einfluss der Familie ist, und äh wenn man’s noch so gut meint, äh und helfen möchte und er hat (.) er hat die hä- äh die Hilfe ja gewollt; also es ist nicht so dass ich jemand bin der rumläuft, und jedem helfen @will@, sondern (.) es muss schon gewollt sein; und ähm (.) die Anfrage muss an mich schon gebracht werden gestellt werden, (.) ähm und der hätte das gerne, aber der is halt nach der Schule dann wieder zu Hause, und (.) lebt das anders, und das was die Eltern vorleben, und (.) er hat im Prinzip keine Chance; der hätte da raus gemusst; meiner Meinung nach (Int. 1, Z. 696–705).
Kirsten W.: […] und da ham wir alle zusammen trotzdem (.) nichts machen können am Ende; und das is mit Sicherlei äh heit gibt’s Grenzen und ähm; mit Sicherheit muss man auch akzeptieren dass man manchmal nich weiterkommt (Int. 1, Z. 725–728).
Kirsten W. artikuliert an der Stelle ein Scheitern ihrer Hilfe in einem konkreten Fall, der sie nach wie vor bewegt und zu beschäftigten scheint, da sie trotz aller Bemühungen einem Schüler nicht helfen konnte. Ohne der Rhetorik dieser Passage im Detail nachgehen zu können, zeigt diese Stelle, wie Kirsten W. sich hier von ihrem eigenen Wunsch, allen helfen zu wollen, allen gerecht zu werden, reflexiv zu distanzieren vermag. Hier sind zum ersten Mal Ohnmachtserfahrungen in der Begegnung mit einem:einer anderen ansprechbar, die die Fachkräfte unweigerlich in der Praxis machen, und die in der Diversity-sensiblen Beziehungsfantasie verdrängt scheinen. In der Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenüber, das sich ihrem Hilfewunsch entzieht, ist es ihr möglich, in eine reflexive Distanz zu den Idealbildern einer neutralen und immer gerechten Fachkraft zu gehen und auch mit der Rhetorik des Verdachts, der sie zuvor in die Sprachlosigkeit trieb, zu brechen.
An den beiden vorgestellten Interviews lassen sich einerseits Idealisierungen einer Diversity-reflexiven pädagogischen Praxis erkennen, in der die Fachkräfte den Kindern und Jugendlichen »ganz« gerecht werden können und jede potenzielle Verfehlung und damit auch mögliche Verletzungen auszuschließen vermögen. Trotz der Betonung der Unmöglichkeit einer solchen Position zeigten sich Fantasien einer technologisierbaren bzw. neutralen pädagogischen Beziehung zum:zur anderen, in denen lacanianisch gesprochen die gespaltene, nicht-identische Seinsweise des:der anderen, aber auch des Selbst, qua normativer Selbstkontrolle grundsätzlich aufhebbar scheint. Die Diversity-sensible Beziehung zum:zur anderen wird damit jenseits des Symbolischen imaginiert, wobei solche Idealisierungen aufgrund ihres unmöglich erfüllbaren Anspruchs immer wieder in eine negative Perspektive auf die (eigene) pädagogische Praxis kippen. Sie mobilisierten Schulddiskurse gegenüber den Fachkräften, die sich in dem einen Fall gegen Fachkräfte im Allgemeinen, im andern Fall gegen das eigene Selbst richteten.
Genau diese Kippbewegung zwischen Idealisierung und Abwertung lässt sich als charakteristisch für die weibliche Position innerhalb patriarchaler Strukturen beschreiben (Irigaray, 1980, S. 181). Birgit Rommelspacher hat ihre Wirkmächtigkeit in den 1990er Jahren im Hinblick auf die Praxis helfender Berufe rekonstruiert (Rommelspacher, 1991, S. 140). Daran anschließend erscheint der Begehrensdiskurs, der die Diversity-sensiblen Beziehungsvorstellungen begleitet, trotz seiner angestrebten Geschlechterneutralität als eben jener vergeschlechtlichter Diskurs, der die Fachkräfte bzw. ihr professionelles Tun in jenen etablierten Begehrenspositionen hält, »[v]ergraben unter all jenen aufwertenden oder herabsetzenden Metaphern« (Irigaray, 1980, S. 181).
Dieser Befund wirft die daher Frage auf, inwiefern die sozialpädagogische Praxis nach wie vor von vergeschlechtlichten Beziehungs- und Hilfefantasien geprägt ist, die als Fortführung einer »weiblichen Moral« (Kuhlmann, 2008, S. 80–83) einzuordnen sind. Angesichts der Ergebnisse scheint die Diversity-reflexive Beziehungsvorstellung solche Fantasien in der Praxis eher noch zu befördern, anstatt eine reflexive Distanz dazu zu ermöglichen. Die selbstreflexive Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun führt in diesem Sinne weniger zu einer Handlungsentlastung, sondern erhöht den moralischen Druck auf die Fachkräfte und befördert typisch weibliche Schulddiskurse.
Allerdings lässt sich in den Ergebnissen auch eine Veränderung klassisch weiblicher Professionsideale erkennen. So sind die Neutralisierungs- und Technologisierungswünsche kaum lediglich als Neuauflage des Ideals der Geistigen Mütterlichkeit oder eines weiblichen Sittlichkeitsauftrags zu verstehen, wie er in den Anfängen Sozialer Arbeit als Frauenberuf noch zu finden ist (Fleßner, 1995). Die Idealisierung einer unmittelbaren Beziehung zum:zur anderen und seinem:ihrem Begehren, wird in der Diversity-sensiblen Beziehungsfantasie nicht länger in einem mütterlichen Wesen verklärt, das damals für einen »menschlich-persönliche[n] Einsatz« (Salomon, 1997/2004, S. 483) stand, der vor der »Gefahr der Versachlichung« (ebd., S. 482) schützen sollte, wie etwa exemplarisch Alice Salomon den Kerngedanken der Sozialen Arbeit beschrieb. In der Diversity-sensiblen Beziehungsvorstellung wird die ideale Bezugnahme auf andere vielmehr in der Überwindung jedweder persönlichen Dimension gesehen, da das »Persönliche« als Hauptursache der Beschädigungen in der Praxis gilt. Hier deutet sich daher eher eine Art »Versachlichung« der Beziehungsgestaltung an, die die weiblichen Idealisierungen an neue Neutralitäts- und Technologisierbarkeitsideale sowie an eine permanente Selbstoptimierung (u. a. Mayer et al., 2013) bindet. Brüchig werden solche Machbarkeitsfantasien dort, wo ein konkretes Gegenüber auftaucht und die eigenen normativen Ansprüche von der Erfahrung mit einem:einer anderen affiziert werden.
Somit bringen die wichtigen normativen Anliegen, wie sie mit Diversity-Sensibilität verbunden werden, ambivalente Dynamiken mit sich. Die starken Bemühungen der Fachkräfte um das Gegenüber, ihre hohe Sensibilität für Vorurteile und Abwertungen im pädagogischen Alltag, kippen rhetorisch immer wieder in ein strenges Über-Ich, was neben dem harten Urteil gegenüber der Praxis den paradoxen Effekt hat, dass der:die andere in den Idealisierungen jedes ambivalente, uneindeutige und unverfügbare Moment verliert und damit kaum noch als andere:r erscheint.
Die feministisch-lacanianische Analyse lenkt den Blick auf das Begehren, seine strukturelle Unmöglichkeit sowie dessen gesellschaftlicher Ausgestaltung. Die pädagogische Praxis wird auf diese Weise als unmöglicher Beruf (Freud) sichtbar und auf ihre (professionellen) Umgangsweisen damit befragt. Die Analyse des Diversity-Diskurses hat gezeigt, dass er eher von rhetorischen Formen abgestützt wird, in denen die Fachkräfte von der eigenen Biografie sowie der Begegnung mit dem:der anderen als einem konkreten Gegenüber abstrahieren. Die unmögliche Vermeidung jeglicher potenzieller Verfehlungen und Verletzungen des:der anderen werden einerseits angesprochen, rhetorisch jedoch eher mittels Kontroll- und Machbarkeitsfantasien eingehegt. Die darin eingenommenen Begehrenspositionen scheinen dabei wie festzustecken in der Dynamik von Selbstidealisierung und Schulddiskurs. Sie verweisen einerseits auf die weibliche Geschichte der Beziehungsvorstellungen in der Sozialen Arbeit, andererseits erfahren diese Beziehungsvorstellungen darin durchaus eine Neuausrichtung, denn die persönliche Dimension der Beziehung soll zugunsten von Neutralitäts- und Technologisierbarkeitsidealen überwunden werden. Wird Diversity-Sensibilität jedoch auf die Erfahrung mit einem konkreten Gegenüber rückgebunden, lassen sich solche (Selbst-)Beherrschungsfantasien irritieren und durchbrechen.
Eine selbstreflexive diversitätssensible Praxis müsste daher stärker an die konkreten Erfahrungen mit dem:der anderen in der Praxis angeschlossen werden. Um das eigene pädagogische Tun aus den unmöglichen Ansprüchen zu lösen, aber auch, um damit potenzielle Verletzungen und Ausschlüsse in der Praxis jenseits von Schulddiskursen besprechbar zu machen, müsste eine Diversity-sensible professionelle Praxis insbesondere an der Reflexion der Begehrensdiskurse ansetzen, die die Diversity-sensible Beziehungsfantasie abstützen. Sie müsste die eigenen (unmöglichen) Über-Ich-Ansprüche sowie die damit verbundenen Verheißungen und Wünsche zum Gegenstand der Reflexion machen: Die Wünsche, allen helfen/alle einzubeziehen zu wollen, die vermutlich die realen Ohnmachtserfahrungen in der Praxis abwehren sollen, aber auch die Wünsche nach einer Beherrschung des Selbst und der vollständigen Ablösung von der eigenen Geschichte. Gegenstand müsste zudem der soziale Ort solcher Fantasien sein, d. h. ihr patriarchales Erbe in Form vergeschlechtlichter Beziehungsfantasien, die in der sozialpädagogischen Praxis – wenngleich jenseits klassischer Mütterlichkeitsideale – nach wie vor wirksam sind.
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The Other in the Discourse on Diversity
Analyzing Social Pedagogical Reflection Practices with and beyond Lacan
Summary: This article proposes a feminist Lacanian perspective on diversity sensitivity in social pedagogical practice. It is based on the results of a study on the fantasies of professionals on diversity-sensitive relationships, in which the fantasies were analysed with regard to their inherent discourses of desire. Based on two interviews with diversity-trained professionals, the article focuses the relationship with the other and then contextualises it within gender structures that still form social work today.
Keywords: diversity sensitivity, social work/social pedagogy, desire, Lacan, sex and gender relations
Marie Frühauf, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal, am Institut für Erziehungswissenschaft. Aktuell vertritt sie die Professur für Sozialpädagogik, insbesondere vergleichende Jugendhilfeforschung an der Leuphana Universität Lüneburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sozialpädagogik, Geschlechter-, Ungleichheits- und Intersektionalitäts-/Diversitätsforschung, Adoleszenzforschung, Psychoanalytische Gesellschafts- und Subjektbildungstheorien, insbesondere postödipale Gegenwartsanalysen.
Kontakt
Marie Frühauf
Bergische Universität Wuppertal
Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften
Institut für Erziehungswissenschaft
Gaußstraße 20
42119 Wuppertal
E-Mail: Marie.fruehauf@uni-wuppertal.de,
marie.fruehauf@leuphana.de