Editorial

Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik • Band 31 (2025), 7–15

https://doi.org/10.30820/0938-183X-2025-31-7 CC BY-NC-ND 4.0 https://jahrbuch-psychoanalytische-paedagogik.de

In der Pädagogik hat die Blickmetapher durchaus eine lange Tradition. Neben Rousseau, der in seinem Erziehungsroman Émile oder Über die Erziehung (1762/2010) die hohe Relevanz pädagogischer Beobachtung hervorhebt und die Erziehenden auffordert, »fangt also an eure Zöglinge besser zu studieren, denn ganz sicher kennt ihr sie noch gar nicht« (ebd., S. 8) betont auch Trapp wenig später die Werthaftigkeit von Beobachtung und spezifiziert:

»Aber was gehört dazu, um richtige Beobachtungen, zuverlässige Erfahrungen anzustellen? Sehr viel. Ein Geist von Vorurteilen und Parteilichkeit frei; ein geübtes Auge; ein durchdringender Blick; eine weiche Seele, die alle Eindrücke annimmt, welche die beobachteten Gegenstände auf sie machen; eine lebhafte Vorstellung von der Möglichkeit, sich zu irren, die zur Behutsamkeit und Wiederholung der angestellten Versuche leitet« (Trapp, 1780, S. 65, zit. n. Schmidt et al., 2016, S. 8).

Diese Charakterisierung eines »pädagogischen Blicks« findet sich in ihren Grundzügen auch in den aktuellen Debatten zu Wahrnehmung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften wieder. Entsprechend stellen Schmidt et al. (2016) in ihrem einführenden Beitrag zum Band Pädagogische Blicke fest, »dass der Perzeption von Pädagog_innen insgesamt eine herausragende und konstitutive Bedeutung in der Pädagogik zukommt« (ebd., S. 12). Die seit 1993 erscheinende Fachzeitschrift Der pädagogische Blick verleiht der Blickmetapher sogar namensgebende Bedeutung. Überhaupt scheint der Verweis auf Blicke sich vorzüglich als »Metaphernreservoir für das Verstehen von Wahrnehmung und Erkenntnis« (Ricken, 2016, S. 41) zu eignen. Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass die Chiffre »Blicke« zwar auf eine spezifische sinnliche Wahrnehmung abzielt und doch keineswegs auf Optik zu reduzieren ist, da auch die anderen sinnlichen Wahrnehmungen einbezogen sind.

Die Psychoanalytische Pädagogik nimmt die Bedingungen und Strukturen pädagogischer Beziehungen in einer besonderen Weise in den Blick, indem sie auf das subjektive Erleben, die »innere Welt« der Beteiligten fokussiert. Sie richtet ihr Augenmerk sowohl auf die Person des/der Erziehenden im unmittelbaren Erziehungsgeschehen wie auch auf die Bedeutung gesellschaftlicher und institutioneller Rahmungen für Erziehungs- und Bildungsprozesse. Dabei steht, ausgehend von der Theorie der Psychoanalyse, die Annahme eines »ubiquitären dynamischen Unbewussten« im Zentrum. Diese besagt, dass sich Menschen beständig mit Erlebnisinhalten konfrontiert sehen, die sie unbewusst als bedrohlich erleben und die sie deshalb aktiv, mithilfe verschiedener unbewusster Abwehr- und Sicherungsaktivitäten, vom Bereich des bewusst Wahrnehmbaren fernzuhalten versuchen (Datler, 2003). Nicht zuletzt sind es schmerzhafte, unerträgliche, zu intensive oder schambesetzte Gefühle, die die innere Abwehr aktivieren und so ein zentrales Element der menschlichen Psychodynamik ausmachen. Mit dieser Prämisse erweitert die Psychoanalytische Pädagogik den pädagogischen Blick und lenkt die Aufmerksamkeit – über das bewusst motivierte und begründbare Denken und Handeln hinaus – auf die Bedeutung unbewusster und emotionaler Prozesse pädagogischen Geschehens. Damit zielt sie auf ein Entschlüsseln und tieferes Verstehen latenter intrapsychischer, interpersonaler und institutioneller Dynamiken, die in der pädagogischen Praxis ebenso wie in Forschungsprozessen stets wirken und diese allzu häufig konflikthaft durchkreuzen. Dies umfasst sowohl unbewusste Inhalte im Sinne des verdrängten Unbewussten (Bohleber, 2013) sowie bewusstseinsnahe emotionale Dynamiken, die sich einem raschen Verstehen entziehen, als auch unbewusste emotionale und affektive Inhalte, die (noch) nicht bewusstseinsfähig sind, weil sie nicht symbolisiert, nicht als psychische Inhalte repräsentiert sind (ein Sachverhalt, der von einer mentalisierungsbasierten psychoanalytischen Pädagogik besonders aufgegriffen wird). Bittner nennt dies »die Dunkelstellen des pädagogischen Feldes« (Bittner, 1996, S. 259) und bezeichnet damit die Innenwelt der beteiligten Subjekte, also bewusste und unbewusste Prozesse in Individuen, Gruppen und Organisationen sowie Dynamiken von Übertragung und Gegenübertragung.

Zudem trägt die Psychoanalytische Pädagogik dem Umstand Rechnung, dass zum einen jede Beziehung, die ein Subjekt eingeht, emotionale Bewertungen enthält und zum anderen eine Bewertung einer (pädagogischen) Situation ohne Gefühle nicht möglich ist. »Gefühle sind nicht kognitivistisch zu reduzieren (etwa auf Verstandesdeutungen körperlicher Erregungszustände), sondern sind eigenständige Verarbeitungsformen der sozialen Wahrnehmung, zugleich aber mit der Verstandestätigkeit derart verflochten, dass Gefühle ohne Vernunft (Intentionalität, Analysieren, Schlussfolgern) unmöglich sind wie Vernunft ohne Gefühle (Wertungen, Entscheidungsfindungen)« (Schmid Noerr, 2003, S. 48). Folglich betrachtet auch die Psychoanalytische Pädagogik Emotionen als erkenntnisgewinnend und nicht als nebensächliche Epiphänomene menschlichen Denkens und Handelns (Schäfer, 2003, S. 83ff.). Auch ein Erkennen beginnt daher nicht schlicht mit der Frage nach dem, was wahrgenommen wird, ist doch das »was« keineswegs unabhängig davon, womit wahrgenommen wird. Und obwohl Emotionen Botschaften enthalten, die eine handelnde Person darüber informieren, wie sie bestimmte Beziehungsqualitäten zu begreifen hat, ist es noch immer wenig geläufig, von der »emotionalen Wahrnehmung« als einem erkennenden Sinnesbereich zu reden (ebd., S. 77).

Dabei bleiben auch Psychoanalytische Pädagog*innen mit dem Problem konfrontiert, wie sie der unabschließbaren Vielfalt und Mehrdeutigkeit von Wahrnehmungen und Erfahrungen eine Stimme geben können, oder anders formuliert, wie sie den Übergang vom sinnlichen Wahrnehmungssystem zum sprachlichen Sinn gestalten (vgl. Merleau-Ponty, 2003) und sich dabei gewahr bleiben, dass dies niemals vollständig gelingen kann.

Vielfalt und Mehrdeutigkeit Raum zu geben ist nicht nur ein Bestandteil professionellen psychoanalytisch-pädagogischen Handelns und Verstehens, sondern kennzeichnet auch die Psychoanalytische Pädagogik als Denkströmung innerhalb der Pädagogik.

Auch 100 Jahre nach ihren Anfängen steht die Psychoanalytische Pädagogik für mannigfaltige theoretische Positionen, Konzepte und praktische Anwendungen. Neben sehr spezifischen Zugängen zu psychoanalytisch-pädagogischer Praxis wie etwa dem »Wiener Modell« der Psychoanalytisch-pädagogischen Erziehungsberatung (Figdor, 2002) finden sich psychoanalytisch-pädagogisch ausgerichtete handlungsleitende Konzepte und theoretische Ansätze für allgemeine pädagogische Praxis, wie sie in Kitas, Schulen, sonder- und sozialpädagogischen Einrichtungen oder der Erwachsenenbildung praktiziert wird (vgl. Hierdeis & Würker, 2022). Das von Alfred Lorenzer (1974) für die klinische Praxis der Psychoanalyse entwickelte tiefenhermeneutische Konzept des »szenischen Verstehens«, das u.a. von Leber (1988) und Trescher (1990) für die pädagogische Praxis spezifiziert wurde, sowie die Tiefenhermeneutik als qualitativ-empirische Methode der kritischen Sozialforschung, die als Hermeneutik auf ein Unbewusstes manifester Sinngehalte von kulturellen Objektivationen und/oder subjektiven Ent-Äußerungen zielt, sind inzwischen im pädagogischen Feld breit anerkannt (vgl. Dörr et al., 2022). Ihnen wurde auch der letzte Band des Jahrbuchs für Psychoanalytische Pädagogik (Kratz & Finger-Trescher, 2024) gewidmet. Ebenso hat sich die »Work Discussion« (Datler & Datler, 2014; Hover-Reisner et al., 2014) als besondere Methode der Fallarbeit inzwischen als geachteter spezifisch psychoanalytisch-pädagogischer Zugang zum Fallverstehen pädagogischer Praxis konsolidiert. Eine weitere Strömung in der Psychoanalytischen Pädagogik stellt die an Lacan orientierte strukturale psychoanalytische Hermeneutik dar, die zunehmend als methodischer Zugriff auf pädagogische Forschungsgegenstände eingesetzt wird.

Die vorliegenden Beiträge verdeutlichen die Heterogenität und Lebendigkeit im aktuellen wissenschaftlichen Diskurs der Psychoanalytischen Pädagogik. Sie zeigen unterschiedliche theoretische, konzeptionelle und methodische Zugänge zu pädagogischer Forschung und Praxis in verschiedenen Handlungsfeldern auf. So werden Ergebnisse aus psychoanalytisch-pädagogischer Praxisforschung, Darstellungen pädagogischer Praxisgestaltung wie Szenen, Fallbeschreibungen oder pädagogische Aufgaben mit theoretischen Überlegungen verknüpft, die aufzeigen, was den je spezifisch psychoanalytisch-pädagogischen Blick kennzeichnet, wie ein psychoanalytisch-pädagogischer Zugang zu pädagogischen Fragen methodisch gestaltet und in welcher Weise dies ein Gewinn für professionelle pädagogische Praxis sein kann. Dies ermöglicht, die Vielfalt der Perspektiven hervorzuheben und zugleich das Verbindende deutlich zu machen. Dieses verbindende Gemeinsame zeigt sich auch daran, dass psychoanalytisch-pädagogische Blicke – unabhängig von der jeweiligen Perspektive – immer beinhalten, die eigene Beteiligung als Pädagog*in, Lehrkraft, Forscher*in, Sozialarbeiter*in oder Supervisor*in selbstreflexiv in den Blick zu nehmen. Durch das Ausleuchten eigener unbewusster Anteile – vor allem in konflikthaften Prozessen – leistet die Psychoanalytische Pädagogik einen unverzichtbaren Beitrag zur Professionalisierung pädagogischen Handelns.

Zu den einzelnen Beiträgen

Rolf Göppel fragt in seinem einleitenden historisch-systematischen Beitrag »Varianten des pädagogischen Blicks« danach, was mit der metaphorischen Rede vom psychoanalytisch-pädagogischen »Blick« überhaupt gemeint sein könnte und erinnert daran, dass diese Chiffre in der jüngeren Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik bereits eine prominente Rolle gespielt hatte. Anhand von einigen psychoanalytisch-pädagogischen »Klassikern« und »Klassikerinnen« zeigt er, dass es in der Geschichte der Psychoanalytischen Pädagogik durchaus nachhaltig überzeugende Varianten des psychoanalytisch-pädagogischen »Blickes« gibt. Diese zeichnen sich zwar durch eine Heterogenität analytischen Denkens, verschiedene Ausrichtungen der Problemwahrnehmung, differente Muster der Deutung von Zusammenhängen psychischer und sozialer Gegebenheiten sowie unterschiedliche Ansichten bezüglich angemessener Handlungsweisen in pädagogischen Konfliktsituationen aus, stehen aber keineswegs in einem Verhältnis der Inkompatibilität zueinander.

Während der Fokus im Beitrag von Rolf Göppel eher auf die Perspektiven in den Anfängen der Psychoanalytischen Pädagogik und zur Zeit ihrer »Renaissance« in den 1980er Jahren gerichtet ist, bezeugen die folgenden Beiträge in diesem Band die Vielfalt der Blicke und damit die Lebendigkeit innerhalb ihres aktuellen theoretischen, forschungsmethodischen und professionellen Diskurses.

Marian Kratz betrachtet in seinem Artikel »Die psychoanalytische Fall­erzählung und das Konzept der Narrativen Identität« die Lehrkräftebildung vor dem Hintergrund eines dreigliedrigen theoretischen Bezugsrahmens – Erzählung, Rezeption und Bildung – und nimmt damit eine aktuelle hochschul­didaktische Perspektive ein. Mit seiner grundlagentheoretischen Herleitung der bildenden Funktion psychoanalytisch-pädagogischer Fallerzählung gelingt ihm nicht nur gut begründet der Anschluss an den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Professionalisierungsdiskurs, sondern er vermag mit seinen erzähl- und rezeptionstheoretischen Überlegungen und den Bezugnahmen auf die Konzepte der »Narrativen Identität« sowie der »professionellen Entwicklung« das Potenzial psychoanalytisch-pädagogischer Wissensbestände für die Lehrkraftbildung überzeugend fruchtbar zu machen.

Mit dem Beitrag »Verwicklung und Abstinenz in psychoanalytisch-pädagogischer Forschung und die Grenzen der Nutzung ›fremder‹ methodischer Zugriffe« nimmt David Zimmermann drei unterschiedlich konzipierte Beispiele psychoanalytischer und psychoanalytisch-pädagogischer Praxisforschung (selbst-)kritisch ins Visier. Neben der Betonung der maßgeblichen Besonderheiten dieser (tiefen-)hermeneutischen Forschungsorientierung, für die es konstitutiv ist, dass Erkenntnisse nicht von einem Außenstandpunkt her erschließbar sind, sondern ein affektives Sich-Einlassen der Forschenden erfordern, erörtert er grundlegende methodische Herausforderungen und Fallstricke, die mit der Nutzung »fremden« methodischen Vorgehens verbunden sind. Zudem greift er mit seiner Problematisierung, wie tiefenhermeneutisch gewonnene Ergebnisse an Praxisforschungsteilnehmer*innen vermittelt werden können, eine problematische Leerstelle auf, die bisher nicht zufriedenstellend beantwortet wurde.

Eines der von Zimmermann besprochenen Forschungsprojekte ist das Wiener Projekt »Regeln, Rituale und der Übergang in den Kindergarten«. Kathrin Trunkenpolz und Christin Reisenhofer stellen in »›Alles klappt reibungslos!‹« dar, wie Eingewöhnungsprozesse in Kita und Kindergarten aus psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive verstanden werden können. Anhand eines Fallbeispiels veranschaulichen sie, wie die Methode der Work Discussion dazu beitragen kann, latente Muster und Sinnstrukturen in den Äußerungen eines Kindes sichtbar zu machen, die durch reine Verhaltensbeobachtung nicht zugänglich sind. Sie verbinden ihre Ausführungen mit einem »Klassiker« der Pädagogik, indem sie Herbarts Überlegungen zum »pädagogischen Takt« als pädagogische Fähigkeit, die als Verbindungsglied zwischen Theorie und Praxis wirkt, in Erinnerung rufen. Auf diese Weise wird eine Brücke zum gegenwärtigen Professionalisierungsdiskurs in der Pädagogik hergestellt.

Vera Dangel, Jonas Rüppel und Lara Spiegler lassen die Leser*innen mit ihrem Beitrag »Triadisch-szenische Rekonstruktionen als fragile Räume der Begegnung« an ihren Erfahrungen in einem psychoanalytisch orientierten sozialpädagogischen Praxisforschungsprojekt teilhaben, das die Affekt- und Interaktionsdynamiken zwischen Fachkräften der Gemeindepsychiatrie und den Nutzenden der Einrichtung mit dem Ziel fokussierte, emotionale (Fehl-)Abstimmungen mit beiden Interaktionsparteien gemeinsam aufzuarbeiten und so zur Kultivierung recovery-förderlicher Arbeitsbündnisse beizutragen. Die Autor*innen informieren über das forschungsmethodische Vorgehen und stellen die für dieses Projekt eigens konzipierte Methode der »triadisch-szenischen Rekonstruktion« anschaulich dar. Auf der Basis der so gewonnenen Daten entziffern sie Potenziale und Fallstricke dieser Verständigungsmethode und leuchten diese vor dem Hintergrund der psychoanalytischen Konzeption der Triangulierung aus.

Marie Frühauf präsentiert in ihrem Beitrag »Der:die andere im Diversity-Diskurs. Zur Analyse sozialpädagogischer Reflexionspraktiken mit und über Lacan hinaus« Ergebnisse aus ihrer feministisch-lacanianisch angelegten Studie über diversity-sensible Vielfaltsvorstellungen sozialpädagogischer Fachkräfte aus verschiedenen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe. Auf der Basis des symboltheoretisch fundierten Begehrensbegriffs von Lacan und dessen geschlechtertheoretischer Weiterentwicklung geht sie am Beispiel von zwei Interviews mit Diversity-geschulten sozialpädagogischen Fachkräften dem unbewussten Begehren sowie der darin eingelagerten Beziehung zum/zur Anderen nach. Mit dem methodischen Zugang der Rhetorikanalyse rekonstruiert die Autorin ambivalente Dynamiken, in die Fachkräfte mit ihren normativen professionellen (Selbst-)Ansprüchen einer vielfaltssensiblen, antidiskriminierenden pädagogischen Praxis geraten können.

Anna Hartmann problematisiert in ihrem Artikel »Schulische Sexualerziehung im Fluchtpunkt von Psychoanalyse und Pädagogik« die pädagogischen Herausforderungen, die der schulische Auftrag einer übergreifenden Sexualerziehung an Lehrkräfte stellt. Dazu beleuchtet sie das Spannungsfeld zwischen Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung, in das schulische Sexualerziehung eingewoben ist und das einen nicht vermeidbaren Einfluss auf die Gestaltung sexualpädagogischer Auseinandersetzung hat. Aus der Perspektive der Lacan’schen Psychoanalyse begründet sie ihre Forderung, auch in einem sexualpädagogischen Diskurs von einem begehrenden, durch die Sprache dezentrierten Subjekt auszugehen. Dies ermöglicht in der Lehrtätigkeit, das Unbewusste, mithin die Erfahrung der (Selbst)Fremdheit, mit einer eröffnenden Sprachlichkeit zu verbinden, sodass Selbstbefragung und Selbstreflexion im Unterricht angeregt und vorschnelle Vereindeutigungen vermieden werden können.

Mit dem Beitrag »›Sie schon wieder!‹ Die Arbeit an Rahmen und Setting in der Jugendhilfe« öffnet Hans-Walter Gumbinger einen beeindruckenden Einblick in die intra- und intersubjektiven Dynamiken einer langjährigen psychoanalytisch orientierten Einzelfallhilfe im Rahmen des KJHG (SGB VIII). Die Maßnahme zielte auf eine Veränderung der psychischen und sozialen Problemsituation des zu Beginn der Betreuung neunjährigen Jungen ab. Unter Bezug auf die psychoanalytisch-pädagogische Konzeption von Setting und Rahmen von Körner und Ludwig-Körner (1997) beschreibt der Autor anschaulich den immer wieder neu entfachten, mehr oder weniger bewussten Kampf der beiden Akteure um die Auffassung vom im Hintergrund wirkenden Rahmen der je aktuellen Situation und ordnet schließlich den Verlauf der gemeinsamen Arbeit unter dem Blickwinkel »von der Objektbeziehung zur Objektverwendung« bei Winnicott und Oliner.

Bezogen auf die Frage »Geht Supervision auch psychoanalytisch-pädagogisch?« formuliert Katja Frühwirth-Feist in ihrem Beitrag »Überlegungen zu psychoanalytisch-pädagogisch orientierter Supervision in pädagogischen Handlungsfeldern«. Vermittels pointierter Thesen beschreibt sie verschiedene Merkmale, durch die sich ein psychoanalytisch-pädagogischer Zugang zu Supervision auszeichnen muss, um von Pädagog*innen als affektiv haltgebender, kreativer »Denk«-Raum genutzt werden zu können. Dabei verdeutlicht die Autorin, dass ein psychoanalytisch-pädagogisches Verständnis zwar in den Grundannahmen der Psychoanalyse verwurzelt ist, mit seinem pädagogischen Anspruch aber darüber hinausgeht und spezielle Aspekte in den Blick nimmt – nicht zuletzt durch das Postulat, dass Supervision auch als Bildungserfahrung von Fachkräften verstanden werden kann.

Den Abschluss des Bandes bildet ein Umschauartikel von Natascha Bousa und Barbara Neudecker. Die Autorinnen zeigen auf, wie pädagogische Praxis in aktuellen akademischen Abschlussarbeiten aus psychoanalytisch-pädagogischer Perspektive erforscht und reflektiert wird.

Margret Dörr & Barbara Neudecker

Literatur

Berufsverband der Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschafter (BVPäd e.V.) (Hrsg.). (ab 1993). Der pädagogische Blick. Beltz Juventa.

Bittner, G. (1996). Kinder in die Welt, die Welt in die Kinder setzen. Eine Einführung in die pädagogische Aufgabe. Kohlhammer.

Bohleber, W. (2013). Der psychoanalytische Begriff des Unbewussten und seine Entwicklung. Psyche, 67(9–10), 807–816.

Datler, W. (2003). Erleben, Beschreiben und Verstehen: Vom Nachdenken über Gefühle im Dienst der Entfaltung von pädagogischer Professionalität. In M. Dörr & R. Göppel (Hrsg.), Bildung der Gefühle. Innovation? Illusion? Intrusion? (S. 241–264). Psychosozial-Verlag.

Datler, W. & Datler, M. (2014). Was ist »Work Discussion«? Über die Arbeit mit Praxisprotokollen nach dem Tavistock-Konzept. https://phaidra.univie.ac.at/detail/o:368997 (29.9.2024).

Dörr, M., Schmid Noerr, G. & Würker, A. (2022). Zwang und Utopie – Potenzial des Unbewussten. Zum 100. Geburtstag von Alfred Lorenzer. Beltz Juventa.

Figdor, H. (2002). Psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberatung. Theoretische Grundlagen. In U. Finger-Trescher, H. Krebs, B. Müller & J. Gstach (Hrsg.), Professionalisierung in sozialen und pädagogischen Feldern. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 13 (S. 70–90). Psychosozial-Verlag.

Gerspach, M. (2018). Psychodynamisches Verstehen in der Sonderpädagogik – Wie innere Prozesse Verhalten und Lernen steuern. Kohlhammer.

Göppel, R. (2015). Bin ich ein »Psychoanalytischer Pädagoge« – und falls ja, in welchem Sinne? In M. Fürstaller, M. Datler & M. Wininger (Hrsg.), Psychoanalytische Pädagogik: Selbstverständnis und Geschichte (S. 53–68). Barbara Budrich.

Hierdeis, H. & Würker, A. (2022). Praxisfelder der Psychoanalytischen Pädagogik. Pädagogische Interaktionen verstehen und förderlich gestalten. Psychosozial-Verlag.

Hover-Reisner, N., Fürstaller, M., Funder, A. & Datler, M. (2014). Work Discussion als Methode der Fallarbeit im Dienste der Professionalisierung in frühpädagogischen Berufsfeldern. In I. Pieper, P. Frei, K. Hauenschild & B. Schmidt-Thieme (Hrsg.), Was der Fall ist. Beiträge zur Fallarbeit in Bildungsforschung, Lehramtsstudium, Beruf und Ausbildung (S. 277–289). Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-531-19761-6_18

Körner, J. & Ludwig-Körner, C. (1997). Psychoanalytische Sozialpädagogik. Eine Einführung in vier Fallgeschichten. Lambertus.

Kratz, M. & Finger-Trescher, U. (Hrsg.). (2024). Szenisches Verstehen in der Pädagogik. Grundlagen, Potenziale, Reflexionen. Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 30. Psychosozial-Verlag.

Leber, A. (1988). Zur Begründung eines fördernden Dialogs in der psychoanalytischen Heilpädagogik. In G. Iben (Hrsg.), Das Dialogische in der Heilpädagogik (S. 41–61). Matthias-Grünewald-Verlag.

Lorenzer, A. (1974). Die Wahrheit der psychoanalytischen Erkenntnis. Suhrkamp.

Merleau-Ponty, M. (2003). Das Primat der Wahrnehmung. Suhrkamp.

Ricken, N. (2016). Die Macht des pädagogischen Blicks: Erkundungen im Register des Visuellen. In F. Schmidt, M. Schulz & G. Graßhoff (Hrsg.), Pädagogische Blicke (S. 40–53). Beltz Juventa.

Rousseau, J.-J. (1762/2010). Emile oder über die Erziehung. Anaconda.

Schäfer, G. (2003). Die Bedeutung emotionaler und kognitiver Dimensionen bei frühkindlichen Bildungsprozessen. In M. Dörr & R. Göppel (Hrsg.), Bildung der Gefühle. Innovation? Illusion? Intrusion? (S. 77–90). Psychosozial-Verlag.

Schmid Noerr, G. (2003). Moralische und unmoralische Gefühle. In M. Dörr & R. Göppel (Hrsg.), Bildung der Gefühle. Innovation? Illusion? Intrusion? (S. 40–76). Psychosozial-Verlag.

Schmidt, F., Schulz, M. & Graßhoff, G. (2016). Pädagogische Blicke. Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf Wahrnehmung. In dies. (Hrsg.), Pädagogische Blicke (S. 7–20). Beltz Juventa.

Trescher, H.-G. (1990). Theorie und Praxis der Psychoanalytischen Pädagogik. Matthias-Grünewald-Verlag.